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Thomas Christ: ReRenaissance freut sich, die portugiesische Gambistin Filipa Meneses zum Gespräch einzuladen.

Wie kommt man von Portugal an die Schola Cantorum nach Basel? Mit welchem Instrument hat ihre musikalische Vita begonnen?

Filipa Meneses: Meine gesamte Kindheit und Jugendzeit widmete ich dem Studium des klassischen Klaviers. Das Klavier war das Wichtigste in meinem Leben und liess keinen Raum für andere Beschäftigungen.

Ich studierte dann am Konservatorium in Amsterdam Klavier und dort entdeckte ich zum ersten Mal die Gambe. Es ist schon erstaunlich, dass ich als Musikstudentin dieses Instrument vorher nicht kannte. Ich denke, das sagt viel über die damalige Alte-Musik-Szene in Portugal aus. Vielleicht war ich aber auch nur zu sehr in mein Klavierstudium vertieft :)

Bei der Gambe spürte ich sofort, dass es kein Zurück mehr gab – vom ersten Moment an hatte ich einen unaufhaltsamen Drang, dieses Instrument und diese Musik zu spielen. Ich ging nach Hause, suchte im Internet nach allem, was ich über das Instrument finden konnte, erwarb ein Instrument, gab mein letztes Klavierkonzert und nahm am nächsten Tag die Gambe in die Hand, um mit dem Üben zu beginnen. In den ersten sechs Monaten übte ich allein, erforschte das Instrument für mich und dachte darüber nach, wie eine entspannte Haltung auf diesem Instrument aussehen sollte, wie der Bogen gehalten werden sollte usw. Dieses halbe Jahr war eine der poetischsten Perioden in meinem Leben. Kein Druck, nur ich und die Entdeckung dieses wunderschönen, klangvollen Instruments.

Schließlich fand ich einen Lehrer, begann mit dem Bachelor-Studium am Konservatorium in Den Haag und erwarb einen Masterabschluss an der Schola Cantorum Basiliensis.

TC: Existiert in Lissabon oder in Porto eine Szene für Alte Musik – sie manifestiert sich wahrscheinlich eher im Barock als in der Renaissance?

FM: Nun ja, ich würde sogar sagen, eine sehr lebendige Szene. Sowohl in Lissabon als auch in Porto gibt es Barockorchester, und es gibt mehrere Festivals mit speziellen Konzerten für Alte Musik. Im Bereich der Renaissancemusik findet sich eine erstaunliche Forschungsabteilung an der Universität Coimbra, in der die Musik des alten Klosters Santa Cruz aufbewahrt wird: etwa 22 Bücher warten darauf, dass ihre Musik wieder zum Leben erweckt wird. Auf diesem Gebiet wird in neuen Projekten wie «Bando do Surunyo» und «Capella Sanctae Cruz» unglaubliche Arbeit geleistet: Die Forschungsgruppen studieren die Manuskripte und bringen diese Musik wieder zur Aufführung.

TC: Die Gambe entstand ja ungefähr im 15. Jahrhundert in Spanien,  und mir fällt auf, dass die Gambenspieler:innenr grossen Wert darauf legen, zu betonen, dass das Instrument mit dem späteren Violoncello wenig zu tun hat. Können sie uns dazu etwas erzählen?

FM: Es stimmt, dass das Cello in der Tat aus der Geigenfamilie stammt, was die Form, die Anzahl der Saiten und so weiter angeht, und die Gambe andererseits ist eher eine Entwicklung aus der Vihuela da mano, einem lautenähnlichen Instrument.

TC: Viele Renaissance-Musiker beherrschen auch noch ein zweites oder drittes Instrument oder sind auch in der Klassik oder im Jazz zu Hause – wo liegen ihre Vorlieben neben der Gambe?

Wie ich schon sagte, stand für mich lange das klassische Studium des Klaviers im Zentrum, daher habe ich immer noch eine gewisse Sehnsucht nach dem romantischen Klavierrepertoire und der Kammermusik, besonders nach dem Quintett-Repertoire, das ich lernen und regelmässig aufführen konnte.

In meinem Alltag höre ich diese Musik nicht mehr, aber jedes Mal, wenn sie auftaucht, ist es, als wäre ich wieder ein Kind, fasziniert von der Entdeckung dieser Harmonien. In meiner Heimatstadt war es nicht möglich, Schallplatten mit klassischer Musik zu kaufen, also sparte ich mein Geld und wählte jedes Mal, wenn ich nach Porto reiste, sorgfältig eine CD aus, die ich kaufte und monatelang immer wieder hörte.

Diese Beschreibung klingt heute so veraltet, in einem Zeitalter, in dem wir die Möglichkeit haben, praktisch alle diese Aufnahmen mit einem Klick von zu Hause aus abzurufen. Aber ich kann nicht beschreiben, was für ein Glück es war, diese eine CD mit nach Hause zu nehmen.

TC: In der Renaissance, aber auch im Barock war die Kunst der Improvisation sehr beliebt und alle grossen Musiker:innen schienen diese Disziplin zu beherrschen. Ist diese Art des Musizierens heute etwas verloren gegangen oder wagt man sich hier nur in engen Mustern ins notenfreie Spiel?

FM: Ich denke, es hängt von den Instrumenten ab. Wenn wir an Zink- oder Violine denken, ist die Improvisation in der täglichen Praxis präsent. Wenn man hauptsächlich ein Bassinstrument spielt, dann vielleicht nicht so sehr. Aber ich glaube, dass die Improvisation in unserer Forschungsarbeit sehr präsent ist, ja.

Ich finde die Praxis der spontanen Improvisation im Konzert eine ziemliche Herausforderung, aber das Konzert «Über kurz oder lang» wird eine gute Gelegenheit sein, zu sehen, welche Teile improvisiert und welche geschrieben sind. Alle sollen kommen und zuhören!

Team ReRenaissance

Das Interview August 2022

Zum Konzert am 31. Juli 2022
«Mit der Flöte singen!»

La Fontegara von Sylvestro Ganassi

Thomas Christ spricht mit dem Blockflötisten und Jazz-Saxophonisten Andreas Böhlen. 

Thomas Christ: Natürlich ist es uns, lieber Herr Böhlen, eine Ehre und eine Freude, Sie für unser Augustinterview zu begrüssen, insbesondere auch deshalb, weil Sie in Ihren Wirkungsfeldern die Grenzen der Frühen Musik gesprengt haben und mit oder über die Kunst der Improvisation auch im Modern Jazz zu Hause sind. 

Natürlich wüssten wir gerne, wie das bei Ihnen alles begonnen hat – wie kamen Sie zur Blockflöte? Oder besser, warum blieben Sie bei der Blockflöte?

Andreas Böhlen: Als Sechsjähriger wollte ich unbedingt Blockflöte spielen und beharrte darauf, bis ich ein Instrument bekam– und ich spiele seitdem bis heute mit grosser Freude! Es war von Beginn weg Teil von mir. Besonders die Kammermusik hatte es mir angetan. Saxophon wollte ich auch schon früh beginnen, mit 10 Jahren war es dann endlich möglich. Das bedeutete einen anderen Freundeskreis, andere Musik, andere Probenzeiten – und daher gab es in meiner Jugend und auch im Studium nahezu keine direkten Berührungspunkte. Beide Instrumente bieten mir nach wie vor tägliche Inspiration und wunderbare Erlebnisse und Entdeckungen.

 

TC: Sie gelten als Meister der Improvisation – diese erlernbare Fähigkeit gehörte in der Renaissance, aber auch in der Barockzeit zum Grundstudium aller Musiker. Warum denken Sie, hat diese Disziplin heute bei den Schola-Abgängern nicht den gleichen Attraktivitätsgrad und ist vielmehr zu einer Ausnahmebegabung mutiert?

 

AB: Als wahre Meister der Improvisation würde ich lieber andere Kolleg:innen bezeichnen, ich liebe aber die Improvisation und damit – trotz aller Vorbereitung – dem Moment ausgeliefert zu sein. Beim Improvisieren muss man anders hören und musizieren als beim Spielen aufgeschriebener Musik. Diese Herangehensweise, und damit auch das Resultat, faszinieren mich sehr.

Ob diese Disziplin grundsätzlich bei Studienabgängern nicht denselben Attraktivitätsgrad hat, kann ich (noch) nicht beurteilen. Ich sehe bei vielen doch ein grosses Interesse und recht hohes Niveau und bei den Blockflötenstudierenden auch das Bewusstsein, dass die Improvisation in verschiedenen Facetten ein wesentlicher Teil des heute erwarteten «Skillsets» ist.

 

TC: Sogenannte Cross-over-Projekte, bei welchen Künstler der Frühen Musik mit neuen Vermittlungsformen experimentieren und damit auch ein neues Publikum ansprechen, scheinen Ihnen schon lange ein grosses Anliegen zu sein – Sie wechseln dann allerdings von der Blockflöte zum Saxophon. Tauchen Sie da in eine neue, andere Welt ein oder wie würden Sie jenen improvisierenden Overlap der Alten Musik mit dem Modernen Jazz beschreiben?

 

AB: Ich würde meine Projekte selber nicht unbedingt als Cross-over bezeichnen, aber doch wage ich Gegenüberstellungen von Alter Musik und Jazz und auch Inspiration aus dem jeweils anderen «Genre». In meiner Erfahrung sind die Musiker der Alten Musik in ihrem Metier am stärksten und die Jazzmusiker in ihrem. Meist finde ich die Schärfung eines bestimmten historischen Stils interessanter als die Vermischung von vielen Stilen. Für die Auseinandersetzung mit unterschiedlich Stilen finde ich eine Konfrontation verschiedener Genres oft spannend. Bildet dann Material aus dem Jazz beispielsweise den Ausgangspunkt für ein «historisches» Stück und umgekehrt, begibt man sich bisweilen auf wunderbar dünnes Eis.

 

TC: Eine historische Frage eines Flötenlaien: Ab wann beginnt man die Flöte «travers» zu spielen und was war der Hauptgrund für diese Entwicklung, die in der orchestralen Klassik zur Beinahe-Verdrängung der Blockflöte geführt hat? Wurde einfach alles immer lauter?

 

AB: Zu diesem Thema können sicher andere Personen eine wesentlich kompetentere Antwort geben als ich. Trotzdem ein Versuch einer Antwort: Ich möchte behaupten, dass es beide Flötentypen in aussereuropäischer Musik schon viel früher gab als in europäischer Musik. In letzterer existierten die Traversflöte und Blockflöte lange Zeit lang nebeneinander, wenn auch wahrscheinlich in der Renaissance nicht in gemeinsamen Consorts. Die Traversflöte stieg dann Ende des 17. Jahrhunderts von einem Militärinstrument zu einem Instrument des Adels auf. Hotteterre mit seinen Principes de la flute traversiere und die Instrumentenbaukunst der ganzen Familie Hotteterre haben hier sicherlich einen wesentlichen Teil zu beigetragen. Die Traversflöte kann sich vor allem wegen anderer Artikulationsmöglichkeiten auf eine andere Art als die Blockflöte mit der Gesangsstimme mischen. Auch hat sie mehr dynamische Möglichkeiten, die für grössere Aufführungsorte und Besetzungsstärken bedeutsam wurden.

Vielleicht kam dazu noch eine sehr sanfte Art der Tonanfänge und -enden in Mode, die die Traversflöte viel besser als die Blockflöte umsetzen kann? Und dann wurde ja zeitgleich auch noch die Barockoboe mit all ihren Möglichkeiten erfunden! Darüber hinaus wurde die im Vergleich zur Blockflöte sehr teure Traversflöte Anfang des 18. Jahrhunderts zu einem Statussymbol der Oberschicht.

Für mich übrigens alles keine Gründe, mich nicht der Blockflöte zu widmen!

 

TC: Und zum Schluss meine Lieblingsfrage zur Wiederentdeckung der Renaissance-Musik. Bekanntlich erfreut sich die Barockmusik seit einigen Jahrzehnten grosser Beliebtheit, sowohl am Radio wie auch in der Opernwelt – können Sie sich für die Musik der Renaissance eine ähnliche Entwicklung vorstellen oder bleibt sie mit ihrem vornehmlich intimen Charakter eher in einer Vermittlungsnische?

 

AB: Das liegt sicher zu einem grossen Teil an den einzelnen Künstler:innen und nicht zuletzt an ihrem Interesse, wie und wo sie ihre Musik aufführen möchten. Ich kann mir vorstellen, dass Renaissancemusik gerade wegen ihres damals oft exklusiven Charakters auch heute sehr attraktiv sein kann. Da bleibt aber viel zu tun für die Vermittlung, denn es ist meist vordergründig leise und unaufdringliche Musik. Bis man Schicht um Schicht dieser Musik dechiffriert, dauert es in der Regel lange. Aber genau dieser Prozess ist wunderbar, für Musiker:innen und Hörer:innen gleichermassen! Renaissancemusik ist nach meiner Erfahrung oft für einen bestimmten Ort komponiert und funktioniert in anderen Räumen durchaus sehr anders. Wenn man es schafft, eine bestimmte Entdeckerfreude des Publikums zu fördern, hat Renaissancemusik sehr viel zu bieten, denn sie braucht mehr Partizipation des Publikums als spätere Musik.

Hanna Marti Gesang Harfe

Team ReRenaissance

Das Interview Juli 2022

Zum Konzert am 31. Juli 2022
«Du Fay»

A cappella!

Thomas Christ spricht mit der Sängerin, Lautenistin, Harfenistin und Forscherin Hanna Marti.

Thomas Christ: Wir freuen uns sehr, in unserer internationalen Musiker:innen-Reihe heute eine experimentier- und forschungsfreudige Baslerin zum Gespräch einzuladen.

Hanna Marti:: Danke! Allerdings muss ich gestehen, dass ich vor Kurzem über die Kantonsgrenze gezogen und nunmehr offiziell Baselbieterin bin ;-).

 

TC: An der Schola Cantorum in Basel spricht man vornehmlich Englisch, Spanisch, Französisch und vielleicht auch Deutsch, waren sie als Schweizerin eher eine Exotin oder fühlt man sich durch das gemeinsame musikalische Schaffen eher als Teil einer supranationalen Wolke?

 

HM: Die internationale Szene an der Schola war für mich eine grosse Bereicherung. Tatsächlich waren wir wenige Schweizer*innen, als ich dort studiert habe, aber dadurch, dass ich damals als zwanzigjährige Studentin zum ersten Mal mit einem Musikhochschul-Kontext in Berührung kam, fühlte sich die Erfahrung eher wie ein Ankommen unter Gleichgesinnten an. Es war nun nicht mehr seltsam, sondern die Praxis von allen, täglich der Musik so viel Zeit und Energie zu schenken. Dazu kommt, dass die Sprache der Musik grösstenteils universell menschlich ist und die Herkunft tatsächlich in den Hintergrund rückt.

 

TC: Wie kommt man von der E-Gitarre zur Mittelalterharfe? Vom Rock zum Barock können durchaus, vielleicht mehr als zur Klassik, rhythmische und melodische Brücken geschlagen werden, aber zu den intimen Klängen des Mittelalters scheint der Weg etwas weiter, oder täusche ich mich da?

 

HM: Für mich ist da kein unüberwindbarer Gegensatz, mich interessiert auch an der Mittelaltermusik immer die menschliche Erfahrung, das, was uns Menschen heute mit den Menschen des Mittelalters direkt verbindet: Wir leben dieselben Emotionen, oftmals sogar dieselben inneren Konflikte, nur sozusagen transponiert in die Kultur von heute. Auch in der Rock-Musik, bzw. der Musik, die ich auf der E-Gitarre als Teenager komponiert und improvisiert habe, interessieren mich nicht die grossen pompösen Gesten, sondern wirklich menschlicher Ausdruck. Diese Essenz verbindet für mich alle Musikkulturen, aber braucht viel Ehrlichkeit. Laute, elektronische, dissonante oder gemäss den klassischen Kulturnormen schräge Musik kann sehr intim berührend sein, genauso wie klassische oder Alte Musik zwar wunderschön und harmonisch, aber völlig oberflächlich bleiben kann.

 

TC: Sie widmen sich mit grossem Erfolg der Wiedererweckung verstummter Lieder aus vergangenen Epochen, wohlverstanden ohne entsprechendes Notenmaterial – welches sind Ihre Inspirationsquellen? Welche Grenzen sind Ihnen gesetzt oder setzen Sie sich selbst?

 

HM: Oftmals sind Fragmente überliefert vom Stück, das ich re-kreieren will, oder dann von der Musikkultur, aus der dieses Stück stammt. Aus diesem Tonmaterial schaffe ich mir eine Art Kompendium von musikalischen Gesten, Phrasen – eine Art Vokabular. Dieses wende ich dann auf mein Stück an, um so eine plausible Re-Kreation zu finden. Es ist folglich ein Balanceakt aus Improvisation, Komposition und Rekonstruktion, in den durchaus auch meine eigenen kreativen Intuitionen hineinspielen sollen. Inspirierend sind jeweils auch die Instrumente, die mich begleiten und ihre ganz eigene Ton- und Klangsprache einbringen: Es beeinflusst auch meinen Gesang, ob eine Harfe oder eine Flöte begleitet. Diese Erklärung ist etwas vereinfacht, ich erkläre meinen Prozess zum Beispiel auf meiner Webseite oder in Youtube-Videos eingehender … oder Sie besuchen einmal einen meiner Workshops, zum Beispiel nächsten September in den Dales in Yorkshire! :-)

Grenzen setze ich mir wenige: Nach einem intensiven musikwissenschaftlich geprägten Studium ging es für mich vor allem darum, meinem erworbenen Wissen zu vertrauen und den Weg zurück zur unmittelbaren Inspiration zu finden und mir nun zu erlauben, diese Inspiration mit meinem Wissen zu verbinden, ihr ebenfalls ihre Wichtigkeit im kreativen Prozess zuzugestehen. Ich bin mir sicher, mittelalterliche Musiker:innen haben ihre Inspiration und musikalische Intuition benutzt! Wenn ich mich also der schöpferischen Welt dieser Menschen annähern will, muss ich den Musikwissenschaftlerinnen-Hut in der Garderobe lassen ...

 

TC: Akustisch ist uns bekanntlich wenig überliefert worden, hingegen ist das verfügbare Bildmaterial aus dem Mittelalter, wie auch aus der Antike äusserst reich. Helfen diese farbigen, ikonografischen Eindrücke für die akustische Wiederbelebung Ihrer Projekte?

 

HM: Ich denke, diese Ikonografien helfen besonders bei der Instrumentenkunde oder bei Spekulationen, welche Instrumenten-Ensembles existierten ... da sie oftmals auch symbolisch gedacht sind, bin ich vorsichtig mit ihrer direkten Interpretation für die Musik. Bei meiner Inszenierung des Ordo Virtutum von Hildegard von Bingen habe ich mich eingehender mit Gestik in mittelalterlichen Abbildungen beschäftigt. Meine Instrumente sind basiert auf Bildmaterial aus der jeweiligen Zeit, aber ansonsten arbeite ich persönlich wenig mit Bildquellen.

 

TC: Und zum Schluss meine «Gretchenfrage» zur Attraktivität der Frühen Musik in der Gegenwart. Die Barockmusik erlebt bekanntlich seit einigen Jahrzehnten einen regelrechten Boom – welche Chancen hat die Vermittlung der intimeren Musik der Renaissance oder des Mittelalters oder wo liegen ihre Grenzen?

 

HM: Ich persönlich glaube zu spüren, dass viele Menschen etwas reizüberflutet sind. In einer Welt, in der wir permanent beschallt und bespielt werden, in der gelobt wird, was laut, bunt und knallig ist und hoffentlich durch ein möglichst radikales Auftreten viele Klicks produziert, tendieren wir dazu, unsere Ohren zu verschliessen – das hat mit Selbstschutz zu tun und ist verständlich. Die Musik, die ich kreiere, alleine oder in Ensembles wie Moirai (www.moirai-ensemble.com), ist nicht einfach zu hören: Man muss sich ihr zuwenden, die Übersetzungen dieser alten seltsamen Sprachen mitlesen, sich ihr hingeben. Die Stücke sind oftmals lang und erzählen Geschichten voller Symbolik. Die Musik verlangt dem Publikum etwas ab, aber ich glaube, dass meine Zuhörer:innen oftmals instinktiv spüren, dass ihnen für ihren Einsatz auch etwas ganz Besonderes, Persönliches und Intimes zurückgegeben wird.

Team ReRenaissance

Das Interview Juni 2022

 


 

Zum Konzert am 26. Juni 2022
«Psalmy Dawida»

Melodien des polnischen Psalters

Thomas Christ spricht mit der aus Polen stammenden Sängerin, Harfenistin und Musikwissenschaftlerin Agnieszka Budzińska-Bennett

Liebe Agnieszka, ReRenaissance hat die Ehre und die Freude eine vielgereiste Expertin der Frühen Musik zu interviewen.

 

TC: Wie kommt man als diplomierte polnische Pianistin von Stettin via Posen nach Basel an die Schola Cantorum? Kamst du über die Musikwissenschaft zur Frühen Musik oder gibt es – wie so oft – ein musikalisches Schlüsselerlebnis?

 

ABB: Seit ich eine Teenagerin war, schlug mein Herz für die Alte Musik. Zuerst war es die Barockmusik. Schlüsselerlebnisse waren dabei die Stimmen von Emma Kirkby, Paul Elliott und David Thomas im legendären «Messias» mit Christopher Hogwood – bis heute kriege ich Gänsehaut, wenn ich diese Interpretation höre. Dann aber, als ich so 16 Jahre alt war, habe ich das Mittelalter entdeckt. Es waren die visionären Aufnahmen von René Clemencic, David Munrow und Gothic Voices (damals in Polen sehr schwierig zu kriegen). Ich finde sie auch heute unglaublich wichtig dank ihrer Transparenz, ihrem Respekt dem Werk gegenüber und dank der unglaublich schöpferischen Kraft – das waren ja eigentlich die grossen Pioniere!

 

Die von Dir angesprochene «Grenzerfahrung» war ein Ausschnitt aus dem «Beowulf», vorgetragen von Benjamin Bagby (Sequentia), einem der grossartigsten Künstler der Alten Musik, die mir je begegnet sind. Stell Dir ein Fragment eines angelsächsischen Epos vor, das vielleicht irgendwann einmal gesungen wurde (ohne erhaltene Musiknotation) und von dem kein Wort zu verstehen ist, vorgetragen von einem einzelnen Sänger, der sich selbst auf einer sechssaitigen Leier begleitet. Manchmal konnte man ein Wort heraushören, das wie eine Mischung aus Englisch, Deutsch oder Altnordisch klang, aber im Allgemeinen war nichts zu verstehen (das war noch die Zeit, als Ben dieses Epos ohne Untertitel aufführte!). Und doch war es ein so erstaunliches Erlebnis, auf seine eigene Weise eine so klare Botschaft, dass jeder von uns (und es geschah während eines der legendären mittelalterlichen Musikfestivals in Stary Sącz in Südpolen) genau wusste, wann in diesem melodramatisch rezitierten Text der Drache die dritte Klaue seines linken Hinterbeins bewegte und was in der Seele des heldenhaften Beowulf vor sich ging. Das hat mich unendlich fasziniert. In diesem Moment erkannte ich mit grosser Klarheit die Macht der Worte, die den Zuhörer so direkt erreichen können, sowohl intellektuell als auch emotional. Da kam mir der Gedanke, dass auch ich eines Tages so etwas machen möchte und könnte.

 

So verdanke ich mein Werdegang und meine Ästhetik meinem Mentor und Freund Ben, durch diesen Einfluss bin ich auch in Basel gelandet, damals der einzige Ort, wo man mittelalterliche Musik studieren konnte.

 

TC: Du hast dich eingehend mit den Wurzeln der Musik, insbesondere der Volkslieder beschäftigt. Wir kennen ansatzweise die Frühe Musik Italiens, Frankreichs, Deutschlands und Englands – worin bestehen die wesentlichen Unterschiede zur Frühen Musik in Osteuropa, insbesondere in deiner musikalischen Heimat Polen?

 

ABB: Ich habe mich nie mit Volksmusik beschäftigt (lediglich ein paar ethnomusikwissenschaftliche Module im Studium belegt), hingegen aber mit den ältesten schriftlichen Zeugen des musikalischen Schaffens vieler Länder – darunter auch Polen, das übrigens zu Zentraleuropa gehört. Die Unterschiede sind nicht so gross: am Anfang gibt es liturgische Musik auf Latein mit ausgeliehenem Material, dann kommt die lokale Produktion auf Latein und dann auch in der Landessprache, es gibt viel Austausch mit Nachbarländern (Deutschland, Böhmen, etc.) und ebenso einen grossen Repertoiretransfer. Wegen der relativ späten Christianisierung (966) entwickelt sich alles etwas später als in Westeuropa, aber schon im späten 13. Jahrhundert finden sich in den südpolnischen Klarissenklöstern die Fragmente der Handschriften aus der Pariser Notre Dame – ob sie tatsächlich aufgeführt worden sind, ist eine andere Frage – und man weiss von lokalen Versuchen, die damals äusserst seltene Vierstimmigkeit einzusetzen. Und im 15. Jahrhundert sind wir in Polen tatsächlich up-to-date: die internationalen und lokalen Repertoires leben harmonisch nebeneinander und es gibt Komponisten, die die neusten Errungenschaften sofort in die lokale Praxis inkorporieren, wie z. B. Nikolaus de Radom, der kurz nach Guillaume Dufay (1400–1474) auch einen «Fauxbourdon» (eine Technik, mehrere parallele Stimmen über eine vorgegebene Melodie zu improvisieren) in seinen Kompositionen einsetzt. Und in der Renaissance werden die polnischen Komponisten und Musiker in ganz Europa bekannt – ein Paradebeispiel ist Wacław z Szamotuł, dessen Motetten in Nürnberg gedruckt werden, neben Orlando di Lasso, Thomas Crequillon, Clemens non Papa, Adrian Willaert, Philippe Verdelot, Nicolas Gombert and Josquin.

 

TC: Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, mit meiner Frage noch mehr an den Rand Europas zu reisen. Du bist nicht nur mit früher isländischer Musik aufgetreten, sondern hast dich auch dem Studium der Skandinavistik gewidmet. Gibt es eine skandinavische Barock- oder gar Renaissancemusik, oder waren das nicht vielmehr importierte höfische oder kirchliche Melodien?

 

ABB: Skandinavien ist die CD-Reihe «Mare Balticum» meines Ensembles Peregrina gewidmet (4 Alben, beim Tacet 2017–21 erschienen). Das spät eingeführte Christentum hat sehr individuelle Lösungen gefördert, insofern ist die Musik aus Dänemark, Schweden oder Finnland schon etwas anders. Einerseits gibt es gängige importierte Melodien (auch Kontrafakturen) – als Beispiel kann ich hier die Messteile mit bekannten Choralmelodien aber auf Altfinnisch erwähnen (haben wir auch aufgenommen!). Anderseits gibt es im Norden viele Experimente, auch im Bereich der Mehrstimmigkeit, die sehr eigenartig sind. Und dadurch unglaublich faszinierend!

 

TC: Vor bald 35 Jahren hast du dein Ensemble für mittelalterliche Musik «Peregrina» gegründet – da bleiben wir abermals beim Thema, denn der Name hat in seiner Bedeutung des Wanderers oder Wallfahrers eine programmatische Bedeutung. Haben sich Musikstile mit der Völkerwanderung verbreitet und lokale Melodien bereichert oder eher verdrängt?

 

ABB: Diverse Einflüsse durch die reisenden Musiker gab es immer. Unser Notker Balbulus (Gelehrter und Dichter aus karolingischer Zeit) aus Sankt Gallen erwähnt eine Handschrift, die aus Jumièges gebracht wurde und ihn auf eine revolutionäre Idee gebracht hat (es handelt sich um frühe Sequenzen). Anderseits gingen mit der gregorianischen Reform viele lokale Idiome des Chorals verloren. Es ist ein ewiges Spiel mit gegenseitig befruchtenden Einflüssen, aber  auch eine Geschichte der Verluste durch das Einsetzen neuer Trends.

 

TC: Meine letzte Frage betrifft wie immer den kompositorischen, aber auch medialen Vergleich der Renaissanceentdeckungen zur heute gespielten Barockmusik. Letztere erfreut sich seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit, während die Renaissancemusik etwas in ihrer Intimität verharrt. Liegt das am Zeitgeist oder an der medialen Vermittlung oder schlicht an der

relativen «Unerforschtheit» jener frühen Musik?

ABB: Renaissancemusik (wie auch die mittelalterliche) verlangt viel mehr vom Zuhörer. Es sind (leider immer noch) fremde Klänge, fremde Sprachen, komplizierte Formen und Gattungen, deren Kontext gar nicht so einfach zu erklären und verstehen ist. Die Schnellheit des Lebens und das «Unspektakuläre» der alten Kunst begünstigen die Vermittlung von Renaissancemusik nicht besonders. Ich habe aber das Vertrauen und sehe es auch bei meinen vielen Reisen durch die Welt, dass es ein immer breiteres und bewussteres Publikum gibt, welches unsere Arbeit schätzt und fördert. Das gibt uns viel Kraft. Und das ist gut so, denn die Arbeit hat erst angefangen. 

Team ReRenaissance

Das Interview Mai 2022
 

Zum Konzert am 24. März 2022
«Im Mayen»

Lasso zum MItsingen

Thomas Christ spricht mit der aus Basel stammenden Jessica Jans, Sängerin und Chorleiterin.

 

TC: Gehe ich recht in der Annahme, dass euch, deinen Schwestern und dir, die Musik in die Wiege gelegt worden ist? Wann war für dich klar, dass dein Leben ohne Gesang kaum vorstellbar wäre?

 

JJ: Meine Eltern haben uns auf ganz natürliche Weise sehr viel Musik vermittelt, ohne uns je dazu zu zwingen. Das scheint viel bewirkt zu haben, denn meine Schwestern und ich haben uns zu einem beruflichen Weg mit Musik entschieden. Allerdings haben wir uns erst noch in Alternativen «ausprobiert». Vielleicht war das für uns wichtig, um die Entscheidung für die Musik frei und aus eigenen Stücken zu treffen. Für mich war und ist klar, dass mein Leben immer viel Gesang enthalten wird, aber die Form kann sich stetig verändern. Dass ich das Singen zu meinem Beruf machen möchte, wurde mir ein Jahr nach der Matura richtig bewusst und ich bereue die Entscheidung keine Sekunde.

 

TC: Du hast dir insbesondere bei deinen Auftritten mit namhaften Barockensembles einen Namen gemacht. Wie würdest du als Sängerin die wesentlichen Unterschiede der barocken Vokalmusik von jener der Renaissance umschreiben?

 

JJ: Für mich ist die Vokalmusik des Barock oftmals extrovertierter, prachtvoller und aber auch strenger als die der Renaissance. Es gibt aus der Renaissance viele weltliche Lieder der Renaissance, die frech, witzig und offensichtlich für ein kenntnisreiches und gebildetes Publikum gedacht sind. Aber ebenso gibt es vokale Barockmusik, die sehr intim und frei sein kann. Der starke Bezug zur Rhetorik und die Verbindung zur Sprache als Grundlage für die Musik sind wesentliche Merkmale in beiden Sparten, jedoch empfinde ich sie in der Vokalmusik der Renaissance meist noch näher zusammen.

 

TC: Vornehmlich junge Interpreten der Frühen Musik zeigen ein grosses Interesse für sogenannte Crossover-Projekte, also Kooperationen oder Improvisationen mit Jazzmusikern oder Experimente mit Formationen aus der Folklore. Was hältst du davon?

 

JJ: Kooperationen dieser Art finde ich sehr spannend und sinnvoll. Ich glaube, es ist sehr wertvoll, offen zu sein und nicht dogmatisch einer Richtung zu folgen, sondern gegenseitig von einander zu profitieren und sich immer wieder neu inspirieren zu lassen.

 

TC: Gerne stelle ich zum Schluss noch meine Gretchenfrage zur Entwicklung der Alten Musik. Die Barockmusik hat seit mindestens 30 Jahren ihre Insider-Nische verlassen und erfreut sich sowohl am Radio wie auch in der Oper einer grossen Präsenz. Hat der grosse Schatz der Renaissancemusik eine ähnliche Chance oder sind ihr durch ihre intime Note Grenzen gesetzt?

 

JJ: Sicherlich sind der Effekt und Affekt der Renaissancemusik anders als in der Barockmusik. So werden sie wohl nie die gleiche Präsenz auf denselben Bühnen erreichen. Aber das ist ja auch nicht notwendig. Die ReRen-Konzerte zeigen sehr schön, dass die Musik der Renaissance durchaus schon aus der Tür ihrer Nische blicken kann. Der grosse Erfolg der neuen Reihe in Basel gibt Anlass zur Hoffnung auf eine «Wieder-Wiedergeburt» dieser grossartigen Musik im normalen Konzertbetrieb.

Thomas Christ: Liebe Jessica, natürlich freut es mich, in unserer Interviewreihe, meines Wissens erst zum zweiten Mal, eine bekannte Baslerin zu befragen – welche Sprache spricht man in der Musikszene in Basel? Fühlt man sich da als Ausländerin oder als Teil einer Weltmusik-Familie?

 

Jessica Jans: Die Freude liegt ganz bei mir, lieber Thomas!

Auf jeden Fall fühle ich mich als Teil einer Weltmusik-Familie.
Die Sprachenvielfalt ist gross – und genau das schätze ich sehr. Meist sind alle bemüht, eine gemeinsame Ebene zu finden, und so mischen sich viele Farben der verschiedenen Sprachen und Herkunftsländer. Die Musik vereint schliesslich alle Beteiligten ganz ohne Worte. Tatsächlich kommt es aber öfter vor, dass ich in Ensembles und Projekten als Baslerin die Exotin bin.

Team ReRenaissance

Das Interview April 2022
Jacob Mariani

Zum Konzert am 24. März 2022
« Grünewalds Grossgeige»

Taufe eines Instrumentes für ReRenaissance

 

Jacob Mariani, Oxford

Jacob Mariani.jpg

ReRenaissance freut sich ausserordentlich, einen Kenner und Fachmann der Frühen Musikinstrumente zum Gespräch einzuladen. Der Amerikaner Jacob Mariani ist nicht nur ein bekannter Lautenist, Gamben- und Viola d’Arco-Spieler, sondern neben seinen musikwissenschaftlichen Studien auch ein gefragter «Luthier» historisch inspirierter Saiteninstrumente.

 

TC: Lieber Herr Mariani, Sie scheinen die Alte Musik nicht nur als Klangvirtuose, sondern auch als Wissenschaftler und Erbauer oder Wiederentdecker alter Instrumente zu erobern. Wie kam es zu dieser Faszination? Was machte den Anfang, den Klang der Noten oder die Neugier für den Instrumentenbau?

 

JM: Sie entstand aus der Faszination für historische Musik und meiner aktiven Teilnahme daran: Es war nicht immer einfach, in meiner Heimat an gute Mittelalter- oder Renaissanceinstrumente zu kommen, und so begann ich, beim Bau auf meine Vision und mein Design zu vertrauen. Ich hatte viel Hilfe und Ermutigung von anderen Instrumentenbauern und Interpreten der vorangegangenen Generation. Diese Leute sind oft sehr erpicht darauf, ihre Fähigkeiten weiterzugeben und eine herzliche Gemeinschaft rund um das Thema zu bilden. Es ist kein Verdrängungswettbewerb, es ist eine sehr offene Gemeinschaft.

 

TC: Vielleicht erklären Sie unseren Lesern kurz etwas über die reichhaltige Geigen- und Gambengeschichte. Es scheinen in der Renaissance fast so viele Geigen- oder Fideltypen zu existieren, wie es Geigenbauer gab, dennoch lassen sich doch spanische, italienische und süddeutsche Geigenfamilien unterscheiden.

 

JM: Ich denke, dass es noch viel über die regionalen Unterschiede zu erforschen gilt. Ich befasse mich mit einer Zeit, in der nur sehr wenige Instrumente tatsächlich überlebt haben, so dass wir unsere Informationen hauptsächlich aus der Ikonographie beziehen. Es ist schwierig, verlässliche Fakten aus diesem Bereich zu erlangen. Wir können über Tendenzen sprechen. Im Allgemeinen sehe ich, dass sich in den italienischen Abbildungen der Lira da braccio vertraute Stilelemente herausbilden, die auf die Violinen- und Viola da Gamba-Familien übertragen werden. Nördlich der Alpen gibt es eine grössere Vielfalt mit vielen Formen und Stilen (die möglicherweise direkt aus der mittelalterlichen Fidelkultur stammen), die im 16. Jahrhundert gewissermassen verkümmert sind. Letztendlich hat sich ein allgemeiner italienischer Stil durchgesetzt, mit Belegen für all diese kuriosen Experimente aus dem deutschsprachigen Raum um das Jahr 1500.

 

TC: Das ReRenaissance Konzert im April kommt in den Genuss einer Premiere – die von einem Engel gespielte berühmte Viola da Gamba des Colmarer Isenheimer Altars ist von Ihnen nachgebaut und im März dieses Jahres fertiggestellt worden. Das Altarbild von Matthias Grünewald muss die Musiker nur schon angesichts der rätselhaften Bogenführung der knienden Interpretin irritieren. Vielmehr erstaunen mich aber die auffallend starken seitlichen Einbuchtungen aller drei abgebildeten Violen. Sind das Grünewald’sche Fantasien, die in Form und Farbe eher die Eleganz des Engels unterstreichen oder tatsächlich historisch relevante Vorbilder?

 

JM: Zunächst einmal ist das Geheimnis, dass ich nichts nachgebaut oder kopiert habe – ich habe auf ein Modell hingearbeitet, das unsere ReRenaissance-Spieler zufriedenstellen würde, indem ich ästhetische Elemente aus dem Gemälde «übernommen» habe. Das Ziel war, dass die Betrachter das Instrument sehen und sofort Grünewalds Stil erkennen, aber auch sagen: «Moment mal, sie haben diesen Teil verändert ... und dann diesen Teil ...» und dabei erkennen, dass nichts mechanisch kopiert wurde. Wir haben uns zuerst an die Ergonomik und die Akustik gehalten und haben viel Zeit in das Studium des Bildverständnisses, der Bilddeutung investiert. Meiner Meinung nach folgen die Vertiefungen in den Instrumenten auf dem Gemälde den Gesten der «Engel» – Venus, Luzifer (Merkur) und Apollo – die humanoiden Formen und Gesten haben Vorrang vor den (funktionalen) Formen der Instrumente. Die Umrisse und Einbuchtungen (Taille) folgen lediglich diesen (seltsamen) Gesten. Davon abgesehen scheinen unsere ikonografischen Quellen viele auf den ersten Blick bizarr anmutende Gambentaillen und äußere Formen aufzuweisen, und diese sollten als mögliche Hinweise auf tatsächliche Trends, die heute verloren sind, befragt werden. Es stellt sich auch die Frage nach einer tiefengestaffelten Ikonographie innerhalb der Ikonographie – wie es bei einigen Instrumenten des Mittelalters der Fall ist, die versuchen, ein antikes Konzept, wie die gehörnte Leier, in den Umrissen einer völlig anderen Form und Technologie zu vermitteln.

 

TC: Sie haben in Ihrem Nachbau die helle Lindenholzfarbe gut getroffen, beim Resonanzkörper entfernen Sie sich aber stark von der «Zweiteiligkeit» des gemalten Instrumentes. Haben sie noch andere Quellen aus der Zeit benutzen können? Sind damals schon Geigenlacke entwickelt worden?

 

JM: Ich habe versucht, die Farbe des Gemäldes und die Annahmen der verwendeten Holzsorten aufeinander abzustimmen. Es gibt nur sehr wenig Lack – nur genug, um das Holz zu schützen, und nur sehr einfache Zutaten, die in ganz Europa leicht erhältlich waren. Hier gibt es keine Geheimnisse (und keine Kunststoffe!). Wir müssen auch bedenken, dass sich die Farbe des Holzes im Laufe der Jahre stark verändert. Im Moment ist das Holz noch recht frisch. Ich hoffe, dass diese Gambe in kurzer Zeit einen honigfarbenen Ton annimmt, der vielleicht den Farbnuancen des Gemäldes näherkommt.

 

TC: Die grosse Beliebtheit der Barockmusik, die in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, scheint mit unserer Konzertreihe vielleicht auch für die weitgehend unentdeckte Musik des Mittelalters und der Renaissance zum Thema zu werden. Denken Sie, dass die Reichhaltigkeit und die Wiederentdeckung der noch unbekannten Blas- und der Saiteninstrumente hierzu einen Beitrag leisten werden?

 

JM: Auf jeden Fall. Unsere Vorstellungen von der Aufführung mittelalterlicher und Renaissance-Musik richteten sich häufig nach den Fertigkeiten, die wir bereits durch die Vertrautheit mit barocken Modellen entwickelt hatten. Diese Geisteshaltung und die damit verbundenen Grundannahmen beeinflussten oft unsere Herangehensweise an frühere Musik und Instrumente; das Ergebnis ist, dass viele historische Instrumente und Praktiken übersehen wurden und andere (die einen grossen Beitrag zum Barock leisteten) unverdientermassen gefeiert und als zentral für die Musik der vorangegangenen Epochen dargestellt wurden. Die Rezeption des Barock in der Aufführung Alter Musik droht unsere Vorstellungen von früheren Epochen zu etwas zu formen, das der historischen Realität nicht entspricht – dies ist eine ständige Gefahr für neue Mittelalter- und Renaissance-Projekte; andererseits hat der Erfolg des Barock den Weg für eine Bewegung geebnet, die ein grösseres Interesse an Details und Vielfalt zeigt und sich vielleicht zunehmend nach dem Unbekannten (der Fremdartigkeit) sehnt, die mit der Erforschung früherer Quellen zu deren eigenen Bedingungen einhergeht. Die ReRenaissance-Reihe könnte ein Teil dieser differenzierenden Bewegung sein, ein Beweis dafür, dass die Gemeinschaften der Alten Musik sich nicht mit einem singulären und generischen Ansatz zufriedengeben, der sich nicht angemessen mit den Epochen auseinandersetzt, die er zu repräsentieren vorgibt. Wenn wir unsere Annahmen über Ästhetik und Aufführung über Bord werfen, werden wir mit einer Fülle interessanter und herausfordernder Details und Modelle konfrontiert. Ich habe mir immer gewünscht, zuerst zu bauen, in der Hoffnung, dass sich neue musikalische Möglichkeiten ergeben werden, sobald wir über ein anderes Instrumentarium verfügen, wie seltsam dieses auch zunächst erscheinen mag. Das Projekt der Grünewald-Gambe folgt dieser Denkweise und wird zeigen, dass sowohl Interpreten als auch Publikum dieser Situation gewachsen sein werden!

Team ReRenaissance

Das Interview März 2022
Ian Harrison

Zum Konzert am 27. März 2022
« La Margarite»

Tänze für eine Prinzessin

 

Ian Harrison, Dozent für Schalmei und Pommer
an der Schola Cantorum Basiliensis,

Thomas Christ: Lieber Ian Harrison, Sie begannen Ihre musikalische Karriere als Berufssänger im Chor der Kathedrale von Canterbury, welchem Erlebnis verdanken Sie/wir Ihre Vorliebe für die alten Blasinstrumente? Wo haben Sie die Schalmei oder den Zink entdeckt?

Ian Harrison: Lieber Thomas, Danke, für die treffenden Fragen.

Wie viele andere habe ich die Mittelalter- oder Renaissancemusik bei einem englischen Mittelaltermarkt entdeckt. Mit 12 Jahren besuchte ich im Sommer mit meiner Familie den «Barsham Fair» in Ostengland. Nachdem wir die

Handwerkerstände eine Weile bewundert hatten, wurde in einem Amphitheater plötzlich Mittelaltermusik angekündigt. Ich kann nicht sagen, was dort genau gespielt wurde, noch welche Instrumente das waren (im Nachhinein vermute ich, dass es Renaissance-Tanzmusik war – Susato oder so). Ab diesem Moment war ich begeistert und gefesselt, und ich habe all mein Taschengeld für LPs mit Mittelalter- und Renaissancemusik ausgegeben, die Discs so oft gehört, bis die Rillen platt waren und die «Sleevenotes» (Texte auf den Plattencovern, Anmerkung von ReRen) so oft gelesen, bis ich sie auswendig konnte. So lernte ich den Zink und die Schalmei kennen. Der Zink war, laut den einschlägigen CD-Texten, «das vielfältigste Blasinstrument» der Zeit. So beschloss ich, Zink zu lernen. Die Schalmei klang aber auch ganz toll, und ausserdem spielte ich schon Fagott, ein Doppelrohrblattinstrument wie die Schalmei. Schliesslich habe ich erst mit 21 angefangen, diese Instrumente zu lernen – es war ein langer Weg, bis ich diese Instrumente und auch die Lehrer finden konnte.

TC: Die Schalmei, der Pommer oder die Bombarde, aber auch der Zink und der Dudelsack sind Instrumente, die vielen unserer Zuhörer:innen möglicherweise wenig vertraut sind. Können Sie uns kurz etwas über die Entstehungsgeschichte und Entstehungsorte dieser Instrumente erzählen?

IH: Dies ist eines meiner Lieblingsthemen, aber ich versuche mich kurz zu fassen.
Es ist unmöglich, einen einzigen Entstehungsort für die Schalmei oder den Zink zu nennen, weil sie Produkte langer Entwicklungsprozesse sind. Sowie jedes Kind irgendwann das Ende eines Trinkhalms angeschnitten und darauf einen Ton geblasen hat, haben die Menschen seit Urzeiten auf Halmen, Schilf und anderen Rohren, die in ihrer Gegend wuchsen, gespielt. Natürliche pflanzliche Rohre sind fast alle akustisch gesehen zylindrisch. Soweit wir aus den Bildern sehen können, waren der altgriechische Aulos oder die römische Tibia, die auf zahlreiche Vasen abgebildet sind, auch zylindrische Rohrblattinstrumente. Typisch bei diesen Instrumenten ist, dass die Spieler:innen jeweils zwei Rohre spielten, für jede Hand eines.

Die europäische mittelalterliche und Renaissance-Schalmei hat demgegenüber eine konische Bohrung, die ihr ganz andere Eigenschaften verleiht. Sie ist höher, lauter und obertonreicher, und ihr konisches Profil muss von einem Instrumentenbauer oder einer Instrumentenbauerin künstlich gebohrt werden. Bisher herrschte die Theorie vor, dass die konischen Schalmeien aus der islamischen Welt nach Westeuropa kamen, entweder via Nordafrika nach Spanien oder aus dem Osten als Folge der Kreuzzüge. Mir ist aber kein Beweis für diese Theorie bekannt. «Volks»-Schalmeien wurden in den unterschiedlichsten Formen auf der ganzen Welt gespielt – sehr intensiv in den Ländern östlich und südlich des Mittelmeers, aber auch in Westeuropa – z. B. in Zentralitalien, Istrien, der Bretagne und Nordspanien. Im Laufe des 14. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa eine Art Schalmei mit einem sehr langen Trichter, die es dem Spieler oder der Spielerin ermöglicht, chromatisch über zwei Oktaven mit einem grossen dynamischen Umfang zu spielen. Dieses Instrument wurde noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gespielt.

Auch der Zink hat seine Wurzeln in der Urgeschichte. Tierhörner, im Gegensatz zu Pflanzenhalmen, sind fast immer akustisch konisch. Wer zuerst die Spitze eines Horns abschnitt, durch seine Lippen hineinblies und die Klangentwicklung durch die konische Bohrung genoss – und wann das geschah – werden wir nie wissen. Auf einem Tierhorn sind sehr wenige Töne möglich. Mehrere Töne können jedoch durch Grifflöcher und das Abdämmen mit der Hand produziert werden. Solche Griffloch-Hörner wurden z. B. in Schweden gespielt. Ab dem 11. Jahrhundert gibt es Bilder, die konisch gebohrte, durch die Lippen geblasene Instrumente aus Holz oder anderen Materialien zeigen. Es wurde immer wieder versucht, die Unregelmässigkeit der Naturhörner zu umgehen und ein Standardinstrument, das wir jetzt auf Deutsch Zink nennen, zu bauen. Im Gegensatz zur Schalmei, die überall auf Bildern und Skulpturen zu finden ist, scheint der Zink im frühen Mittelalter aber nie richtig Fuss gefasst zu haben und blieb ein Exot. Im späten 15. Jahrhundert änderte sich das aber schlagartig. Innerhalb von 20 bis 30 Jahren breitete sich der Zink über ganz Europa aus und ersetzte die Schalmei als führendes Sopran-Blasinstrument. Eine Generation von Spielern und Instrumentenbauern knackte das Konstruktionsgeheimnis des Zinken und verursachte so eine der grössten und schnellsten Revolutionen in der Geschichte des Musikinstrumentenbaus.

Der Pommer ist ein grosser und tiefer Verwandter der Schalmei. Zusammen bilden Schalmei und Pommer die erste Instrumentenfamilie der Musikgeschichte. So, wie die Schalmei im Laufe des 14. Jahrhunderts ihre klassische Form bekam, entwickelte sich auch gleichzeitig der Pommer – beides, nehmen wir an, aus dem Wunsch heraus, mehrstimmige Musik im Stil der Sänger:innen zu spielen. Der Name «Pommer» ist eine Verdeutschung des französischen Namens «bombarde», welcher zuerst 1326 in Strassburg aufscheint. Markenzeichen des Pommers ist eine fässchenförmige Kapsel mit vielen kleinen Löchern, kurz oberhalb des Trichters, die Fontanelle. Die Klappen neben den Grifflöchern erlauben den Spielern tiefer zu spielen.

Die allerersten Bilder des Dudelsacks kommen aus dem Spanien des 13. Jahrhunderts. Bis weitere Belege auftauchen, müssen wir also davon ausgehen, dass der Dudelsack eine spanische Erfindung ist. Das Instrument geniesst dort noch heute eine grosse Beliebtheit und wird in verschiedenen traditionellen Formen gespielt, die den mittelalterlichen Bildern ähnlich sind. Ich werde in unserem Konzert eine galizische gaita spielen. Die grosse Frage für mich ist, ob nur eine Person die geniale Idee hatte, eine Schalmei mit einem Sack zu kombinieren, woraus alle Dudelsäcke auf der ganzen Welt entstanden sind, oder ob mehrere Menschen unabhängig voneinander die gleiche Idee hatten.

TC: Die Musik des Mittelalters und erst recht jene der Renaissance verorten wir gerne in einen höfischen und – noch mehr – in einen kirchlichen Kontext, von der frühen Instrumentalmusik in einem folkloristischen Umfeld wissen wir wenig. Waren die Holzblasinstrumente nicht auch beliebte Begleiter der Volksmusik und des Volkstanzes?

IH: Ja sicherlich. Das sehen wir auf zahlreichen Bildern. Am berühmtesten sind die ländlichen Szenen von den Breughels, auf denen Dudelsäcke zum Tanz gespielt wurden, allein oder in Paaren. Auch sehr häufig abgebildet war die Paarung von Dudelsack und Schalmei. Hier ist die grosse Frage: was haben sie gespielt? Die Alte Musik-Bewegung hat sich von Anfang an mehr oder weniger bewusst auf die Schriftkultur gestützt. Wir brauchen immer eine schriftliche Quelle, eine Handschrift, einen frühen Druck, Noten, Traktate, Beschreibungen, Dichtungen. Mündliche Volkstraditionen der Renaissance sind mit sehr wenigen Ausnahmen verschwunden. Ab und zu aber treffen sich Volksmusik und schriftliche Quellen. Viele der mehrstimmigen Kompositionen des Mittelalters und der Renaissance basieren auf einem präexistierenden Stück, einem cantus firmus. Diese Melodien stammten oft aus gregorianischen oder anderen Chorälen, aber mitunter war es auch üblich, Volksmelodien als cantus firmus zu verwenden. Als Beispiel hierzu spielen wir Heinrich Isaac’s vierstimmiges Stück E qui la dira dira auf Pommer, Zink und Posaune – und die Ursprungsmelodie auf dem Dudelsack zum Tanz.

TC: Sie sind mit Ihren Ensembles für Frühe Musik in Europa, den USA, aber auch in Asien unterwegs, eine Gruppe nennt sich «The Early Folk Band» – da stellen sich gleich zwei Fragen, nämlich jene des Improvisierens mangels klarer Notierungen und jene des Experimentierens mit anderen Stilrichtungen der neuen Musikszene. Sind Sie ein Freund von Fusion oder eher von Trennung von Musikstilen?

IH: In den Jahren der Jahrtausendwende dachte ich, dass niemand mehr Interesse hätte, «reine» Alte Musik zu hören und dass wir im 21. Jahrhundert Alte Musik nur noch in Kombination mit Jazz, Worldmusik, Hip-Hop und so ähnlich produzieren würden. So bin ich immer wieder überrascht, wie viele Menschen noch Konzerte mit «authentischer» Renaissancemusik hören möchten (nicht, dass ich enttäuscht wäre: ich mag das auch!). The Early Folk Band ist aber eines der authentischsten Ensembles für Alte Musik, die ich kenne. Wir spielen Musik aus Quellen vor 1600 auf historischen Instrumenten und verwenden dabei auch zeitgemässe Aufführungselemente, wie Pantomime, Schauspiel, Humor und Tanz. Unser Projekt «Ars Supernova» hingegen war ein bewusstes Crossover, um zu zeigen, wie man beim Zusammentreffen von Jazz- und «Alten» Musiker:innen mit Themen aus dem Mittelalter und der Renaissance improvisatorisch umgehen kann.

Dass die Quellen der Renaissance und vor allem des Mittelalters oft nur eine Skizze von dem überliefern, was damals gespielt wurde, ist bekannt und verleiht dieser Musik für mich einen grossen Reiz. Die Tanzmusik in diesem Programm ist ein gutes Beispiel – sie ist in der handschriftlichen Quelle einstimmig notiert. Auf zeitgenössischen Bildern von höfischen Tänzen ist sehr oft ein Ensemble wie das Unsrige abgebildet, das definitiv mehrstimmig spielte. Unsere Herausforderung ist es, die «fehlenden» Stimmen zu ergänzen. Das tun wir durch eine Mischung aus Komposition und Improvisation.

TC: Und schliesslich stelle ich den Stars der Renaissance-Musikszene immer gerne die Frage der Vermittlung der Frühen Musik – während sich die Barockmusik seit wenigen Jahrzehnten bei einer breiten Bevölkerung grosser Beliebtheit erfreut, bleibt die reiche Renaissance-Musikwelt noch weitgehend unentdeckt. Liegt das lediglich an der mangelnden Vermittlung einer noch wenig bekannten Musikepoche?

IH: Jede Generation macht den Fehler zu denken, dass ihr Alte Musik-Revival das erste ist. Die barocke Musik wurde tatsächlich seit einigen Jahrzehnten sehr beliebt – seit ungefähr zwei Jahrzehnten. Die beliebtesten barocken Stücke, die heutzutage unter historisch informierter Aufführungspraxis gespielt und gesungen werden, sind aber meist die gleichen beliebten Stücke, die seit langem aufgeführt worden sind. Bei der Renaissancemusik ist das nicht ganz so – hier geht es mehr darum, Musik zu entdecken die niemand kennt. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum Barock, die Renaissancemusik nicht für eine Konzertsituation konzipiert wurde. Eine Barockoper wurde für ein volles Opernhaus bestimmt, eine Chanson des 16. Jahrhunderts aber vielleicht nur für die Menschen, die sie spielten oder sangen. Wenn bei einem Konzert mit Renaissancemusik mehr Leute im Publikum anwesend sind als auf der Bühne, ist das im Grunde keine historische Aufführungspraxis mehr. Wir hoffen trotzdem, dass das bei unserem Konzert der Fall sein wird!

Team ReRenaissance

Das Interview Februar 2022
Claire Piganiol

Zum Konzert am 27. Februar 2022
«Canti B»

Fortsetzung einer heimlichen Revolution

 

Dr. Thomas Christ befragt die bekannte Harfenistin,
Flötistin und Musikhistorikerin Claire Piganiol

Thomas Christ: Liebe Frau Piganiol, Sie entdeckten in jungen Jahren, beim Studium der modernen, klassischen Harfe die Alte Musik und fanden so den Weg von Paris via Mailand und Toulouse nach Basel. Wie kam es zu jener Faszination für die Welt der Alten Musik?

Claire PiganiolLieber Herr Christ, vielen Dank für das Interview! Ich habe alte Musik durch das Blockflötenspiel entdeckt und ich muss sagen, ich habe das Instrument damals aus praktischen Gründen gewählt (endlich einmal etwas Transportierbares!). Doch die alte Musik und die historischen Harfen haben mich als Jugendliche schnell fasziniert — nicht nur das Repertoire, sondern auch wie man damit umgeht, der «Pioniergeist» und die Freiheit (Improvisation, Generalbassspiel …), welche diese Repertoires ermöglichen, sowie die vielfältigen Möglichkeiten für Ensemblespiel.

TC: Ihre beiden Instrumente, die Flöte und die Harfe haben bekanntlich eine mehrtausendjährige Geschichte, gehören so quasi zu den ersten Musikinstrumenten der Menschheit. Dennoch ist über Bauweise und Notation der alten, auch mittelalterlichen Instrumente wenig überliefert. Welches sind Ihre Quellen für den Nachbau der heutigen Mittelalter- oder Renaissanceharfen?

 

CP: Einerseits haben wir manche erhaltene Instrumente, zum Beispiel die «Wartburgharfe» (die Oswald von Wolkenstein – dem Sänger, Komponisten und Dichter um 1400 – gehört haben könnte) oder zwei sehr schöne Doppelharfen aus dem Italien der Spätrenaissance. Andererseits können wir uns an Ikonographie und Literatur wenden. So ist die Harfe, die ich im Februar-Konzert spiele, nach einem Gemälde von Hans Memling nachgebaut worden (dank einer ganz genauen Darstellungsästhetik erkennt man die Instrumente sehr gut).

 

TC: Noch schwieriger stelle ich mir die Rekonstruktion der Spieltechnik und auch der Saitenstimmung vor – da wird wahrscheinlich mit kenntnisreichem Einfühlungsvermögen viel improvisiert und neu erfunden? Oder auf welche historischen oder kunstgeschichtlichen Quellen greift man dafür zurück?

 

CP: Das stimmt! Für die Spieltechnik haben wir (wenig erstaunlich) aus dieser Zeit keine genauen Beschreibungen, es sind jedoch vereinzelt Hinweise, unter anderem in Traktaten und in der Literatur zu finden. Beispielsweise gibt uns ein Psalmkommentar aus dem 13. Jahrhundert ein paar Hinweise zur Spielweise der «Kithara», ein antiker Instrumentenname, der zu jener Zeit auch als «Harfe» gedeutet wurde. Für die Saitenstimmung wissen wir, dass Harfenisten ziemlich viel umgestimmt und «spezielle Stimmungen» benutzt haben. Die Harfenisten von heute müssen dann, genau wie die Harfenisten von damals, ihre eigene Lösungen finden!

 

TC: Ist die Harfe des Mittelalters und der Renaissance primär ein Begleitinstrument zum Gesang oder – wie die Flöte – ein Instrument mit einer eigenen Stimme, oder – mit anderen Worten – kann sie im Renaissancerepertoire mit der Laute verglichen werden?

 

CP: Die Harfe ist ein Instrument, das sich selbst genügt, und wir haben sowohl im Mittelalter als auch in der Renaissance Namen und Beschreibungen von virtuosen Harfenisten — dennoch war die Harfe auch als Begleitinstrument besonders gut geeignet. Im Gegensatz zur Laute gibt es aber relativ wenig Musikstücke, die explizit für Harfe komponiert bzw. gedruckt wurden. Auf der Harfe kann meist auch das Repertoire von Tasteninstrumenten und Lauten gespielt werden.

 

TC: Eine letzte Frage, die ich gerne allen Stars der Alten Musik stelle: Wir beobachten, übrigens erst seit einigen Jahrzehnten, dass sich die Barockmusik einer enormen Beliebtheit erfreut, während die reichen Renaissancemusikschätze noch weitgehend unentdeckt bleiben oder ein Nischendasein führen. Was denken Sie? Fehlt es an der Vermittlung, wird der Fanclub der Renaissancefreunde wachsen oder hat er in unserer lauten und schnelllebigen Zeit seine Grenzen?

 

CP: Ich hoffe sehr, dass der Fanclub der Renaissancefreunde wachsen wird! Man hört noch oft das Argument, Renaissancemusik sei «trocken», noch nicht «expressiv» (mit der Vorstellung im Hintergrund, dass die Musik des Frühbarock endlich expressiv war), vielleicht noch nicht virtuos genug. Das ist aber natürlich nicht so und ich habe den Eindruck, dass mehr und mehr Neugier und Interesse für diese Musik entsteht. Es ist unsere Aufgabe als Musiker, qualitativ hochwertige Programme zu präsentieren und sie für das Publikum verständlich zu machen, um zu versuchen, neue Leidenschaften für dieses Repertoire zu gewinnen.

Team ReRenaissance

Das Interview Januar 2022
Dr. Agnese Pavanello

 

 

Zum Konzert am 30. Januar 2022
«Reopening Gaffurius' Libroni»
Motetten am Mailänder Dom

 

Dr. Thomas Christ befragt die Dozentin für Musikgeschichte an der Schola Cantorum Basiliensis 

Thomas Christ: Sehr geehrte Frau Pavanello, ReRenaissance freut sich ausserordentlich, zum Jahresbeginn der Konzertreihe 2022 eine erfahrene Musikwissenschaftlerin, eine Musikhistorikerin zum Gespräch einzuladen.

Nach Ihrem Studium der Musikwissenschaften in Pavia führte Sie Ihr Weg trotz Ihrer Publikationen zu Corelli, Tartini, Locatelli und Bonporti nicht nach Rom oder Neapel, sondern nach Regensburg, Freiburg und Basel – können Sie uns das kurz erklären?

Agnese Pavanello: Als ich in Regensburg ein Semester studierte, entschied ich, dass ich mich weiter im deutschsprachigen Raum ausbilden wollte. Ich war von der deutschen Universitätskultur fasziniert, von den fantastischen Bibliotheken angetan, die unkompliziert zugänglich waren, und ich fühlte mich bereichert von all den Impulsen, die ich als junge Italienerin im Ausland erhielt. Von der Universität Freiburg im Br. kam ich mit einem Forschungsstipendium nach Basel. Ich wollte mich mit den Quellen Corellis, die am Musikwissenschaftlichen Institut gesammelt waren, näher beschäftigen. Am Basler Institut fand ich ein besonders fruchtbares Umfeld vor, um mich in der Musikwissenschaft weiterzuentwickeln, und ich entdeckte damals neu meine Leidenschaft zur alten Musik, bzw. zu weiteren historischen Bereichen auch dank meinen Besuchen an der Schola Cantorum Basiliensis (Konzerte und Veranstaltungen verschiedener Art). Ich liebte es, bis spät in der Nacht am Basler Musikwissenschaftlichen Institut zu arbeiten, damals war dessen Bibliothek für uns Studierende immer offen. Ein Traum für mich. Im Folgenden erhielt ich ein Stipendium für Basel und anschliessend arbeitete ich zwei Jahre am Institut als Hilfsassistentin. Als ich nach vielen Jahren musikwissenschaftlicher Tätigkeit in Österreich eine Forschungsstelle an der Schola Cantorum Basiliensis erhielt, hatte ich eindeutig das Gefühl, beruflich am richtigen Ort angekommen zu sein.

TC: In unserer ReRenaissance-Konzertreihe beginnen wir das Jahr mit einem Motettenzyklus und anderen Stücken aus den bekannten Mailänder Libroni. Sie haben an der SCB ein Forschungsprojekt zu diesen Libroni mit dem Titel «Polifonia Sforzesca» geleitet – was ist das Besondere an diesem Projekt? Inwiefern ist die diesjährige Aufführung eine Premiere?

AP: Das besondere an diesem Projekt war, dass wir eine Online-Plattform kreieren wollten, in welcher man die Mailänder Libroni, die zu den wichtigsten Musikhandschriften geistlicher Vokalpolyphonie der Renaissance zählen, digital verfügbar machen und sie unter neuen Gesichtspunkten erforschen kann. Wir planten von Anfang an, dass dieses Portal nicht nur einen Katalog und ein Inventar der Werke enthalten sollte (mit detaillierten Informationen, wie Konkordanzen, Bibliographie zu den einzelnen Werken, etc.) sondern auch kritische digitale Editionen aus den Libroni sowie gezielte Studien zu den Handschriften und dem enthaltenen Repertoire. Insbesondere hatten wir vor, das Repertoire der sogenannten «motetti missales», Motettenzyklen, die während des Gottesdienstes aufgeführt wurden, in neuen kritischen Editionen im Open Access zugänglich zu machen und dank neuer Forschung neu zu beleuchten. Diese Ziele haben wir alle erreicht. Insgesamt fast sieben Jahre hat unser internationales Forscherteam daran gearbeitet – zuerst nur an der Erforschung der Motettenzyklen, danach an der Erschliessung des musikalischen und kulturellen Kontextes des Mailänder Doms unter den Sforza-Herzögen. Mehrere Publikationen und Online-Ressourcen sind dadurch entstanden.

Von Anfang an hatten wir die Möglichkeit, mit Musikern der Schola Cantorum Basiliensis zu arbeiten und mit der von uns untersuchten Musik klanglich zu experimentieren. Das ReRenaissance-Konzert ist ein Resultat dieser Zusammenarbeit. Die Zusammensetzung des Programms ist eine Premiere – einzelne Motetten, Serien von Motetten (ein Zyklus und kleinere Motettenzyklen) und Ordinariums-Sätze werden kombiniert und evozieren somit eine Praxis, die für Mailand gut belegt ist. Das Besondere an diesem Konzert ist der improvisatorische Teil. Ausgehend von den Choralmelodien erproben die Sänger:innen und Musiker:innen verschiedene Improvisationstechniken. Dadurch wird auch demonstriert, wie eng die Beziehungen zwischen verschiedenen Gesangspraktiken (einstimmige und mehrstimmige Traditionen) im geistlichen Bereich waren. Zum Beispiel bei den Sequenzen (Gesänge mit gereimten und rhythmisch angeglichenen Versen): Auf die Melodien dieser einstimmigen Gesänge wurden im Mittelalter stets Stimmen dazu improvisiert! In diesem Konzert hören wir also improvisierte Mehrstimmigkeit – und das ist etwas, das man nicht so oft in Konzerten erleben kann.

TC: Bei musikgeschichtlichen Studien werden gerne und zu Recht historische Brücken zu Nachbardisziplinen gebaut, etwa zum Instrumentenbau, zur höfischen Kultur jener Region, zu Einflüssen aus anderen Ländern, aber auch zur Malerei zur Zeit der Libroni. Begrüssen Sie diese interdisziplinären, kunsthistorischen Kontakte oder sind sie in der Musikwissenschaft eher ein Nebenschauplatz?

AP: Der interdisziplinäre Dialog ist von wesentlicher Bedeutung in unserem Fach. Er gibt Zugang zu Kenntnissen, die sonst nicht zu erlangen wären und erweitert das Spektrum mit methodischen Ansätzen, was essenziell für die Forschung und ihre Umsetzung im praktischen Bereich ist. An der Schola Cantorum Basiliensis bemühen wir uns stets um interdisziplinären Austausch, da die Beschäftigung mit Alter Musik, dies unbedingt voraussetzt. Im Umgang mit Kirchenmusik der Renaissance ist es nötig, interdisziplinär zu arbeiten, auch um z. B. ihre theologische Dimension zu erfassen, die genauso wie musikpraktische Gegebenheiten ihre Form und Inhalte geprägt hat. Wenn z. B. bestimmte Stücke während der Liturgie gesungen wurden, ist es klar, dass man mit der Liturgie der Zeit vertraut sein sollte, auch nur in Bezug auf die Frage, ob die Funktion oder der Kontext der Aufführung formale und stilistische Aspekte der betreffenden Musik beeinflusst haben (beispielweise im Aufbau eines Stückes oder in der Verteilung von homophonen oder polyphonen Abschnitten). Die Liturgie des Mittelalters ist aber eine Disziplin für sich, die spezifische historische Forschungen voraussetzt. Uns Musikwissenschaftler:innen ist sehr wichtig, in diesem interdisziplinären Dialog heranzuwachsen, um neue Erkenntnisse und Interpretationsmöglichkeiten von Musikwerken zu erlangen.

TC: Wie muss man sich das Notenbild dieser polyphonen Kompositionen vorstellen, wie viele der Stimmen sind vollständig notiert, wie viel wird als «Variantenkenntnis» der Begleitstimmen vorausgesetzt oder erlernt?

AP: Die Werke, die im Konzert erklingen, sind vierstimmig notiert. Auf einer Doppelseite eines Chorbuchs stehen üblicherweise nur die Stimmen, die das kontrapunktische Gerüst ausmachen. Wir wissen nicht, wie viele Sänger genau eine Stimme ausführten, oder wann und wie Instrumente die Vokalstimmen verstärkten. Das hängt von der spezifischen Situation der Aufführung ab. Schon damals, Ende des 15. Jahrhunderts, wurden einzelne Stimmen für homophone Passagen gerne vielstimmiger aufgespalten – oder gelegentlich sogar in zwar Chöre aufgeteilt, um eine reichere harmonische Fülle zu erreichen. Auch in den Fällen, bei denen Listen der Sänger erhalten sind, können wir nur hypothetisch rekonstruieren, wie viele Musiker tatsächlich an einem musikalischen Ereignis teilnahmen und wie sie an einem speziellen Stück beteiligt waren. Deswegen ist es wichtig, immer wieder auch mit der Besetzung klanglich zu experimentieren (z. B. mit der räumlichen Aufstellung, der Verteilung von solistischen und chorischen Einsätzen, Klangfarbe und Ornamentierung usw.). Heutzutage können wir uns viel Freiheit im Umgang mit älterem Repertoire erlauben – wenn man jeweils bewusst mit dem spezifischen Repertoire umgeht. Bezüglich der einstimmigen musikalischen Überlieferung: Wie oben erwähnt, wissen wir, dass einstimmige Melodien nicht selten mehrstimmig aufgeführt wurden. Eine zweite Stimme war üblich bei einigen Gesängen wie z. B. den Sequenzen, aber es wurde auch mit mehreren Stimmen improvisiert. Also zusammengefasst: Das Notenbild erzählt uns nur einen Teil der Geschichte. Wir brauchen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Musik, um sie überzeugend wiederbeleben oder interpretieren zu können.

TC: Die Barockmusik und auch ihre historisch informierte Aufführungspraxis erfreuen sich seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit, jedes Opernhaus setzt heute mit zunehmendem Erfolg Barockopern auf sein Programm. Hat sich auch das Interesse für die Renaissancemusik gewandelt oder stehen wir da noch am Anfang einer Entdeckungsreise?

AP: Mir scheint das Interesse für die Renaissancemusik wesentlich grösser als noch vor 30 Jahren, aber wir haben es in der Tat mit einer Musik zu tun, die noch ein relativ kleines Publikum anspricht, weil sie den meisten unbekannt ist. Vielleicht stehen wir nicht ganz am Anfang einer Entdeckungsreise, doch ist das Potential dieser Musik noch lange nicht ausgeschöpft. Auch wenn wir in Basel eine durchaus aussergewöhnliche und privilegierte Situation erleben, da wir hier oft das Glück haben, ungehörte Musik aus Mittelalter und Renaissance in Konzerten zu geniessen, zeigt die ReRenaissance-Reihe deutlich, welchen immensen Reichtum an Werken das Renaissance-Zeitalter bietet. Diese Musik verdient, wieder gehört zu werden und dadurch aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Vielfalt und ihrer Ausdruckskraft ein neues Leben zu geniessen.

Team ReRenaissance

Das Interview November 2021 – 
Elam Rotem

 

 

 

 

 

 

Zum Konzert am 28. November 2021
«Un niño nos e naçido»
Villancicos zur Vorweihnachtszeit.

Dr. Thomas Christ befragt

den Komponisten, Sänger und Cembalisten Elam Rotem 

Thomas Christ: Sie sind noch keine 40 Jahre alt und gehören bereits zu den profunden Kennern der Frühen Musik, nicht nur in Basel, sondern in der ganzen westlichen Musikwelt. Wie kamen Sie zum Gesang? Wann entdeckten Sie das Cembalo?

 

Elam Rotem: Mit acht Jahren begann ich, Klavier zu lernen. In der Oberstufe (als ich um die 16 war) habe ich auch angefangen, im Schulchor zu singen. Allmählich merkte ich, dass die Musik, die ich am meisten mochte – sowohl am Klavier als auch im Chor –, Werke aus den älteren Epochen der Musikgeschichte waren. So lag es auf der Hand, dass ich zum Spielen dieser Repertoires auf Cembalo oder Orgel umsteigen müsste. Da es in Israel nur sehr wenige Orgeln gibt, war das Cembalo die praktikablere Option (zwar sind Cembali in Israel ziemlich schwer zu finden, aber immer noch einfacher als Orgeln). Mit dem Cembalo entdeckte ich mehr und mehr die Musikwelt des 17. und 18. Jahrhunderts und auch frühere Werke, wenn ich nach Vokalmusik suchte. Es wurde offensichtlich, dass dies das Repertoire ist, das mich am meisten beeindruckte und ich tat alles was in meiner Macht stand, um es zu erlernen und aufzuführen.

 

TC: Das international bekannte Ensemble Profeti della Quinta haben Sie bereits während ihrer Ausbildung in Israel gegründet. Können Sie uns dazu und auch zur Wahl des Namens etwas erzählen?

              

ER: Als mein Interesse an altem Repertoire auch in der Highschool weiter wuchs, begann ich mit Freunden eine kleine Gesangsgruppe zu gründen. Wir sangen Motetten aus dem 15. Jahrhundert in den Gängen der Schule (dem Ort mit der besten Akustik, den wir finden konnten) und waren dadurch eine interessante Attraktion für unsere Mitschüler. Am letzten Tag des Gymnasiums gaben wir unser erstes offizielles Konzert in einem grossen Entwässerungstunnel (wieder der Ort mit der besten Akustik, den wir finden konnten, in Ermangelung von Kirchen oder alten Palästen). Wir sangen ein gemischtes Programm, von Motetten aus dem 15. Jahrhundert bis zu Barbershop-Songs. Der Name der Gruppe, NEVIE'I HAKVINTA, – auf Hebräisch wörtlich: «Die Propheten der reinen Quinte» – war im Grunde ein Scherz. Während wir «Propheten» als etwas Biblisches, Ernstes und Historisches verwendeten, klang es wie der Name einer Heavy-Rock-Band. Wir waren uns einig, dass wir ihn ändern mussten, aber in Ermangelung eines besseren Vorschlags blieb er einfach so. Als wir nach Europa zogen und unser erstes Album aufnahmen, mussten wir uns für einen internationalen Namen entscheiden. Wir fanden, dass er, wenn er ins Italienische übersetzt wird, gut klingt und Neugierde erweckt.

 

TC: Sie sind auch als Komponist bekannt. Bedienen Sie sich dabei ganz der Kompositionsmuster des 17. und 16. Jahrhunderts? Ist es möglich, Grenzen zwischen Imitation und Inspiration zu ziehen?

 

ER: Für mich persönlich war es schon immer ziemlich natürlich, zu komponieren und ich habe es während meines ganzen Studiums gepflegt. Als ich mich mit älteren Praktiken des Musizierens beschäftigte, stellte ich fest, dass Musiker in früheren Zeiten regelmässig Musik liefern und erschaffen mussten und nur selten auf ältere, bekannte Repertoires zurückgriffen (wie es Interpreten heutzutage fast immer tun). Wenn wir historische Aufführungspraktiken nachahmen, gibt es keinen Grund, warum wir nicht auch die historischen Praktiken des Musikmachens – nämlich das Komponieren und Improvisieren – nachahmen sollten. Die Grenzen zwischen Nachahmung und Inspiration sind in jedem Kunstwerk fliessend.

 

TC: Lassen Ihre «Stilkopien» genügend Raum für den eigenen gestalterischen Ausdruck? Sollen bei Ihren Kompositionen bestimmte frühe Musiker wiedererkannt werden oder führen Sie vielmehr den Zuhörer in die Erlebniswelt der Renaissance und des italienischen Frühbarocks?

 

ER: Ich stelle mir vor, ich hätte in dieser Zeit gelebt und wäre als Musiker (und natürlich auch als Schüler der von mir geschätzten Meister) tätig gewesen. Mein Ziel ist es, den Stil so zu erlernen, dass ich in der Lage bin, sowohl Emotionen als auch meine persönlichen Ideen so auszudrücken, wie es ein Komponist aus dieser Zeit tun würde. Und genau wie die Musik eines Komponisten aus dieser Zeit, wäre sie eine Mischung aus gängigen Idiomen, Einflüssen von bestimmten anderen Meistern und natürlich auch originellen Momenten. Die Komponisten, zu denen ich beim Komponieren am meisten aufgeschaut habe, stammen aus dem italienischen Barock des frühen 17. Jahrhunderts; Komponisten wie Emilio de’ Cavalieri, Claudio Monteverdi und andere.

 

TC: Im Gegensatz zur Welt des Barocks ist der reiche musikalische Schatz der Renaissance noch weitgehend unbekannt. Haben Sie dafür eine Begründung?

 

ER: Ich denke, es ist allgemein so, dass sich der Schwerpunkt der klassischen Musikszene um das Ende des 18. und das 19. Jahrhundert dreht, und je weiter das Repertoire davon entfernt ist, desto weniger ist es bekannt. Wenn man speziell nach dem Unterschied zwischen dem 16. Jahrhundert («Renaissance») und dem 17. Jahrhundert («Barock») sucht, kann man vermuten, dass die Tendenz zu Monodien und eingängigen Melodien des späteren Jahrhunderts etwas leichter zu erfassen und zu hören ist als die bisweilen unübersichtliche Polyphonie der früheren Periode.

Team ReRenaissance

Das Interview Oktober 2021 – 
Jean-Christophe Groffe

Zum Konzert am 31. Oktober
«Chantez gayment»
Von Genf nach Basel»

Dr. Thomas Christ befragt

Jean-Christophe Groffe,
den vielseitig interessierten
Musiker, Sänger und Chorleiter.

 Foto © Daria Kolacka

Thomas Christ: Natürlich erfahren wir zu Beginn gerne etwas über Ihren biographischen Werdegang. Wie kamen Sie zur Gitarre und wie entwickelt man sich allmählich zum Barocksänger während eines musikwissenschaftlichen Studiums?

Jean-Christophe Groffe: Das ist einigen Zufällen geschuldet... Als ich ein Kind war, lebten wir auf dem Land, und da gab es in der Nähe einen Gitarrenlehrer. Dieses Instrument begleitete mich von meiner Jugend bis zu meinem Studium der Musikwissenschaft. Während meiner Ausbildung habe ich auch Chorleitung studiert. Wir haben viel füreinander gesungen, so quasi als «Versuchskaninchenchor». Mir wurde bald klar, dass das Singen ein zentraler Bestandteil meines Lebens ist. Ich habe dann in Paris Gesang studiert... und später dann in Basel!

TC: Hätten Sie sich eine Karriere als Opernsänger mit Vorliebe für die Frühe Musik vorstellen können oder wären Sie eher Opernregisseur geworden? Sie sind bekannt für Ihre Begeisterung für szenische Arbeiten.

 

JCG: Wie ich schon sagte, habe ich das Singen durch die Mehrstimmigkeit entdeckt. Eine Opernkarriere hat mich nie gereizt, ein unglaublich harter Job und meiner Meinung nach auch undankbar... Ich bewundere einige Sängerinnen und Sänger sehr, habe aber keine Lust, diesen Beruf zu ergreifen! Ich mag es, Gesang mit kontextuellem Denken zu mischen, zu bereichern, darüber nachzudenken, wie man Musik präsentiert, wie man sie dem Publikum zugänglich macht. Das macht mich nicht zu einem Regisseur, aber ich liebe die Vielfalt der Aufgaben in meiner Praxis.

 

TC: Ihre Freude an szenischen Aufführungen haben sicher auch mit einem Interesse an Grenzüberschreitungen zu tun, und zwar nicht bloss von der musikalischen in die bildende Kunst, sondern auch von der Vergangenheit in die Gegenwart. Können Sie uns etwas über jenen Brückenschlag von der Alten in die zeitgenössische Musik erzählen?

 

JCG: Hier müsste man definieren, was «Alte Musik» wirklich bedeutet. Als «Alte Musik» bezeichne ich eigentlich jedes Repertoire, das ich nicht selbst erschaffe. Als Interpret arbeite ich sehr häufig mit Komponisten zusammen und hatte in den letzten zwanzig Jahren das Vergnügen, unzählige Werke uraufzuführen. Wenn ich aber mit einem bereits bestehenden Repertoire arbeite, versuche ich mir immer wieder die gleichen Fragen zu stellen. Ob Josquin oder Stockhausen, ich versuche, die Musik mit einer neuen, heutigen Sichtweise zu verstehen, indem ich mich nach den Praktiken und Kontexten frage. Die Kombination von Renaissancerepertoire und Musik des 20. Jahrhunderts erscheint mir daher ganz natürlich.

 

TC: In der Szene der Frühen Musik fällt auf, dass sich die Barockmusik seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit erfreut. Der reiche Schatz der Renaissancewerke führt demgegenüber beinahe ein Schattendasein. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied, dieses Ungleichgewicht?

 

JCG: Man muss nur ein wenig tiefer graben, um das Repertoire der Renaissance zu entdecken! Und jener Musikschatz ist jedem zugänglich, der den Forschungsaufwand nicht scheut. Das barocke Repertoire ist vor allem auf der Opernbühne populär geworden. Die Barockoper ist vielleicht kein Mainstream-Event, sie hat aber zweifellos dazu geführt, dass das Repertoire des 17. Jahrhunderts in den Medien präsent ist. Das Repertoire der Renaissance ist oft intimer, was es schwieriger macht, ein sehr grosses Publikum zu erreichen. Aber vielleicht ändern sich die Dinge ja!

 

TC: Anlässlich unseres Oktoberkonzertes, welchem ja ein Chorseminar vorangestellt ist, interessiert uns insbesondere Ihr Credo als Chorleiter, dies umso mehr als ja bei diesem Konzert auch Laiensänger mitlernen und mitsingen sollen. Können Sie uns etwas als Chorleiter über Ihre Erfahrung des Laienchorsingens erzählen?


JCG: Wichtig ist, die Werke so einzustudieren – ob vokal, instrumental oder beides – dass das Musizieren wieder Spass macht! Das ist das Credo und die Idee, die mich leitet und die auch der musikalischen Praxis der Renaissance entspricht! Abgesehen von den professionellen Musikern bin ich immer wieder erfreut und erstaunt die Freude zu sehen, die Menschen am Singen haben. Singt! Die Welt kann dadurch nur besser werden!

Team ReRenaissance

Das Interview Septemeber 2021 –
Catherine Motuz

Zum Konzert am 26. September
mit Blasmusik aus Nordspanien

Dr. Thomas Christ spricht mit der Dozentin und Spezialistin
für frühe Posaune. 

Catherine Motuz © Susanna Drescher Querformat.jpg

Thomas Christ : Ich habe das Vergnügen im September mit Frau Catherine Motuz und insbesondere über ihr Instrument, die historische Posaune, ein Gespräch zu führen, ein Instrument über dessen Geschichte ich selbst eher wenig weiss. Natürlich ist uns bekannt, dass an der Schola die weltweit besten Interpret*innen der Frühen Musik spielen, forschen und dozieren, aber dennoch sei die Frage erlaubt, wie kommt man von der McGill University in Montreal zum Studium der Frühen Musik nach Basel?

Catherine Motuz: Die Interpretation von Alter Musik kann auch in der Neuen Welt schon auf eine lebendige Tradition zurückblicken. In Montreal gibt es eine der aktivsten Szenen für historische Aufführungspraxis, mit etwa zwei Dutzend professionellen Ensembles und hochkarätigen Programmen an der McGill University und der Université de Montréal. An der McGill wird sogar einmal im Jahr eine Barockoper aufgeführt (normalerweise in jährlichem Wechsel zwischen Händel und Monteverdi). Viele der Dozierenden, die diese Studiengänge gegründet und dann darin unterrichtet haben, hatten in den 1970er und 80er Jahren in Europa studiert und dann in Nordamerika neue Lehrgänge eingerichtet. 
In meinem Fall gab es ein Zink- und Posaunenensemble an der McGill University, das von Douglas Kirk geleitet wurde. Dank seines Wissens über Musikgeschickte, musikalische Repertoires und Aufführungspraxis kam ich als Bachelor-Studentin im zweiten Jahr zum ersten Mal in den Genuss Alter Musik und war sofort begeistert. Dr. Kirk ist auch der wichtigste Forscher für das Repertoire des anstehenden ReRenaissance-Konzerts. Er reiste selbst nach Lerma und hat seine Forschungsergebnisse zur Aufführungspraxis sowie die Ausgabe des späteren der beiden Manuskripte, aus denen wir spielen werden, veröffentlicht. Nachdem ich in seinem Ensemble gespielt hatte, absolvierte ich einen Master in Alter Musik bei dem historischen Posaunisten Dominique Lortie, bevor ich 2004 zu einem weiterführenden Studium an die Schola Cantorum Basiliensis bei Charles Toet kam.

TC: Wir kennen aus den Aufführungen Alter Musikwerke die Barock- oder die Naturtrompete, wissen aber wenig über den «Sackbut», die Renaissanceposaune. Können sie uns etwas über die Entstehungsgeschichte der Zugposaune erzählen?

CM: Die Posaune wurde ungefähr zur Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelt, in etwa zu der Zeit, da es üblich wurde, Stimmen in Basslage in der Vokalpolyphonie einzusetzen. Kurz vor 1400 lernten Instrumentenbauer, wie man ein Messingrohr biegen kann, indem man es mit Blei füllt und dieses nach dem Biegen wieder ausschmolz. Dies ermöglichte den Bau von längeren, also tieferen Blechblasinstrumenten, und mit der Ergänzung eines Doppelzuges war die Posaune geboren. Von allen frühen Instrumenten hat sie sich in den letzten 550 Jahren am wenigsten verändert. Die Grundkonstruktion ist gleichgeblieben. Bei der modernen Posaune sind nur Schallbecher und Bohrung grösser geworden, und es wurden Ergänzungen wie ein Stimmzug und eine Wasserklappe hinzugefügt. Der grösste Unterschied liegt im Mundstück: Das alte Mundstück hatte scharfe Kanten, die die Luft einfangen und den Klang etwas diffuser machen, so dass er sich besser mit Streichern und Stimmen mischen lässt und es ausserdem einfacher ist, Klangfarbe und Artikulation zu variieren.

TC: In frühen Zeichnungen werden seltener Trompeten und Zinken, aber häufiger Posaunen und Zinken zusammen abgebildet – hat das einen spezifischen Grund?

CM: Der Zink ist im Wesentlichen das Sopraninstrument der Posaunenfamilie, weil er wie die Posaune in der Lage ist, die menschliche Stimme in ihrer Tonqualität, Artikulationen, und den Variationen in Dynamik und Klangfarbe zu imitieren, und natürlich weil er voll chromatisch ist. Die frühe Trompete war alles andere als chromatisch und konnte daher keine Gesangsstimmen verdoppeln, wie es die Posaune und der Zink vermochten.

TC: Mehr als die anderen Instrumente der Alten Musik kommt die Posaune der menschlichen Stimme am nächsten – wie berücksichtigen die Kompositionen der Renaissance diesen Umstand in geistlichen Chorwerken oder bei der Stimmverteilung in Instrumentalwerken?

CM: In der Renaissance wurde die Posaune in mehrstimmigen Kontexten häufig mit Stimmen gemischt, indem sie entweder eine Stimme mit einem Sänger verdoppelte (was wir colla parte nennen) oder eine Stimme allein spielte, während andere Stimmen gesungen wurden. 

Darüber hinaus enthalten die meisten frühen Quellen, von denen wir wissen, dass sie von Posaunen gespielt wurden, Vokalmusik. Ein frühes Beispiel ist der Druck einer kurzen Motette von Antoine Brumel aus dem Jahr 1533, auf welchem von Hand geschrieben steht: «Was guett auff Posaunen ist». Spätere Quellen wie die Kopenhagener, Regensburger und Lerma-Stimmbücher sind voll von Vokalmusik, von der wir wissen, dass sie auch instrumental verwendet wurde. Die Posaune wird in den Besetzungsangaben in den Begleitdokumenten oder auf den Stücken selbst genannt. 

Im Zuge eines moderneren Stils im siebzehnten Jahrhundert begann die Posaune in einem zunehmend instrumentalen Idiom zu spielen, aber auch hier sind die Diminutionen und kurzen Verzierungen normalerweise noch an vokalen Techniken orientiert. Ab etwa 1620 entwickelt sich ein vollkommen instrumentaler Stil, bei dem der Umfang der Stimmen weit über die Oktave oder Dezime, der Rahmen, in dem Vokalstimmen üblicherweise gesetzt wurden, hinausgeht und bei dem grosse Sprünge vorkommen.

TC: Die Frühe Musik gilt im Gegensatz zu den Kompositionen späterer Epochen als intimer und leiser. Bedeutet dies, dass die Renaissanceposaune eher an bedeutenden festlichen Anlässen, im Freien oder in grösseren instrumentalen Ensembles zum Zuge kam? 

CM: Die Posaune ist eines der wenigen Instrumente, die sowohl den lauten als auch den leisen Ensembles zugerechnet wird. Die «Alta Capella» ist das laute Ensemble - ursprünglich mit Schalmeien und Trompeten (mit und ohne Zug), später mit Zinken, Posaunen und oft noch mit Schalmeien oder Fagotten. Diese spielten zwar im Freien zu bedeutenden festlichen Anlässen, z. B. bei Prozessionen und von Stadt- und Kirchtürmen aus, aber diese Anlässe machten nur einen kleinen Teil der Arbeit des Posaunisten aus. Da ihr Dynamikbereich auch bis in die leisesten Töne reicht, konnte die Posaune auch in leisen Ensembles spielen, zusammen mit Gamben und Zupfinstrumenten, die drinnen gespielt wurden. Es gibt einen interessanten Brief eines Zinkenisten namens Luigi Zenobi aus dem 17. Jahrhundert, der den Bläsern rät, ihr leises Spiel stärker zu kultivieren als ihr lautes, denn es ist das leise Spiel, das in den Gemächern der Fürsten gehört werden wird! 

Der grösste Teil des Repertoires für Blasinstrumente stammt jedoch aus der Zeit, als sie in der Kirche gespielt wurden. In Spanien, wo die unserem Programm zugrundeliegende Handschrift gefunden wurde, gibt es Beweise für das colla parte-Spiel, aber die Bläser spielten auch in alternatim, d.h. sie spielten abwechselnd mit dem Chor die Strophen eines Psalms, eines Magnificats oder eines Lieds. Instrumente wurden hauptsächlich an Festtagen eingesetzt, was aber nicht bedeutet, dass sie nur selten verwendet wurden: Im Spanien des 16. Jahrhunderts gab es im Schnitt etwa ein kirchliches Fest pro Woche!

Team ReRenaissance

Das Interview August 2021 – Corina Marti

Anlässlich des Konzertes vom 29. August
mit Tabulaturen für Tasteninstrumente
aus dem Basler Hause Amerbach
.

Thomas Christ spricht mit der Spezialistin
der Musik des Mittelalters und Kennerin der frühen Tasteninstrumente

TC: Liebe Corina Marti, natürlich stellt sich zu Anfang unseres Interviews die Frage: auf welchen Wegen wird man zur Spezialistin der frühen Musik, über die Musikgeschichte oder über die Neugier für unbekannte Instrumente?

 

CM: Spezialistin wollte ich nie werden, sondern Musikerin, Künstlerin – Blockflöte und Cembalo wollte ich spielen, mein Leben lang. Es war einfach meine Neugierde, die mich vom 18. bis ins 11. Jahrhundert brachte, damit verbunden dann natürlich das Instrumentarium, und dann begann ich vor 16 Jahren, Mittelalter/Renaissance-Tasteninstrumente zu unterrichten. Zwei Jahre zuvor fing ich schon an, hier in Basel an der Schola Blockflöte für Mittelalter und Renaissance zu unterrichten – da wird man schnell «erwachsen» und forscht und lernt und wird dann wohl auch zu einer Spezialistin.

 

TC: Die Musik der Renaissance und mehr noch jene des Mittelalters muss zur Wiederbelebung oft aus Fragmenten und minimal vorhandenen Bruchstücken zusammengesetzt und rekonstruiert werden – ist das bei den frühen Tasteninstrumenten nicht ähnlich? Können Sie uns etwas über die Vorläufer des Cembalos und ihrer Nachbildungen erzählen? Wenn Baupläne fehlen, welche Rolle spielt die Malerei des Spätmittelalters?

 

CM: Die Malerei spielt natürlich eine grosse Rolle, wobei man sich immer bewusst machen muss, ob es eine gute Darstellung des Instrumentes ist oder eher eine Fantasie. Einen Bauplan aus dem Jahre 1440 gibt es für das Clavisimbalum – aber auch dort muss man schauen und genau aufpassen, um zu verstehen, was Sinn macht und was nicht. Eine andere wichtige Rolle spielen die Beschreibungen dieser Instrumente – da gibt es zum Glück einiges. Für die Zeit der Renaissance haben wir dann zum Glück originale Instrumente, die uns überliefert sind, so z. B. auch das Clavicytherium aus dem späten 15. Jahrhundert, welches im August-Konzert erklingen wird.

 

TC: Unsere ReRenaissance Reihe hat sich insbesondere mit der englischen, französischen, italienischen und deutschen Renaissancemusik beschäftigt – Sie haben sich intensiv mit polnischen Kompositionen jener Zeit beschäftigt. Sind da signifikante Unterschiede zu erkennen oder gehört Polen in dieser Zeit musikalisch in den nordeuropäischen Kanon?

 

CM: Ich denke, es gibt immer einen speziellen «Geschmack» in der Musik, es hängt von den Komponisten ab, egal in welchem Jahrhundert. Es gibt z. B. kleine spezielle Kompositionstechniken und dann auch Arten und Weisen, wie etwas intabuliert wurde, die sich unterscheiden können und eventuell eine Idee davon geben können, was z. B. typisch italienisch ist.

Polen, ach ja, leider bin ich hier bei ReRen nicht für polnische Musik* angefragt worden – aber meine Duopartnerin hier für dieses Konzert Sofija Grgur und ich arbeiten schon an einem nächsten Programm, das uns eher wieder in den «Osten» bringt. Ich habe viel polnische Musik gespielt, dank meines Mannes Michal Gondko. Er leitet zusammen mit mir das Ensemble La Morra. Durch ihn und durch befreundete Musikwissenschaftler bin ich sehr vertraut geworden mit den polnischen Quellen, oder besser eigentlich mit den zentraleuropäischen – denn diese Musik ist eine europäische, nichts anderes. Wir finden, egal ob aus dem 14., 15. oder 16. Jahrhundert, in den polnischen/zentraleuropäischen Quellen die Musik aus Italien, Frankreich, Deutschland, usw. Genau was ich liebe, das gesamte Europa! Wunderbar. Einen typischen polnischen Stil gibt es nicht.

 

TC: Interpreten der Frühen Musik, ob Blockflöte oder Tasteninstrumente sind regelmässig Virtuosen der Improvisation. Könnten Sie sich vorstellen, sog. Cross-over Projekte mitzugestalten, also etwa Renaissancestücke und Renaissanceinstrumente in einer Jazzformation auftreten zu lassen? Oder sollte man solche Experimente unterlassen?

 

CM: Das muss jede/jeder für sich selbst entscheiden. Ich habe in einigen Produktionen mitgespielt, die irgendwelche «Mischungen» Crossover waren – wenn das Konzept gut ist und die Musik auch, warum nicht.

 

TC: Die letzte Frage zielt ein wenig auf das Publikum der Frühen Musik – die Barockmusik erlebt bekanntlich seit einigen (wenigen) Jahrzehnten einen erfreulichen Publikumsboom, insbesondere sind auch Barockopern in ganz Europa en vogue. Die reichen Schätze der Musik zwischen 1400 und 1600 schlummern aber noch weitgehend im Verborgenen. Was braucht es ihrer Ansicht nach zu einer professionellen Vermittlung dieser Frühen Musik?

 

CM: Auf mich und das Ensemble La Morra trifft dies nicht zu, wir spielen seit über 20 Jahren rund um den Globus – unsere Programme sind immer aus dem 14. oder 15. oder 16. Jahrhundert – wenn diese Musik nicht en vogue wäre, wären wir nicht so viel gereist und hätten nicht so oft gespielt, auch unsere zahlreichen preisgekrönten CDs beweisen das.  Es schlummert noch viel Musik, die wieder gespielt werden sollte: ja, das stimmt, aber es schlummert genau soviel Musik noch aus dem 18. Jahrhundert.

Was meiner Meinung nach dem Business schadet, sind Leute, die denken, Mittelalter- und Renaissancemusik sei einfacher auszuführen, sei weniger virtuos. Da gibt es dann Konzerte die einfach technisch auf einem tiefen, unprofessionellem Niveau sind, wenn möglich noch mit Kostümen, so aus dem Dunstkreis der Mittelaltermärkte. DAS schadet unserer Branche und der Musik – da gehe ich auch lieber in eine Barockoper.

* Anmerkung der Redaktion: Ein für Januar 2021 geplantes Programm mit Musik von Mikołaj Gomółka für den polnischen Psalter wurde auf Juni 2022 verschoben.

Team ReRenaissance

Das Interview Juli 2021 – Masako Art

Anlässlich des Konzertes vom 25. Juli
um den Dichter und Komponisten Serafino von Aquila
spricht die Harfenistin Masako Art über ihren eigenen Werdegang
und die Entdeckung der Hakenharfe
.

Thomas Christ spricht mit der Harfenistin Masako Art

Thomas Christ: Wie findet eine japanische Pianistin den Weg zum Harfenstudium – wenn ich das so sagen darf – vom sonnigen Kyoto ins regnerische Schottland?

 

Masako Art: Das ist eine lange und private Geschichte, die ich nicht so gerne ausführe! Es ist besser, wenn ich darüber spreche, warum ich diese hübsche Harfe mit dem seltsamen Klang spiele: Bevor ich nach Basel kam, verbrachte ich 8 Monate im Norden Schottlands, wo ich nicht weit entfernt vom bekannten Harfenisten Bill Taylor lebte. Ich begann bei ihm, Unterricht zu nehmen, und er weihte mich in die Kunst des Renaissance-Harfenspiels ein, also die Instrumente so zu spielen, wie sie gedacht waren, nämlich mit Schnarrhaken. Dabei wird am unteren Ende jeder Saite ein Holzhaken so eingerichtet, dass er die Saite gerade noch berührt und einen schnarrenden Klang erzeugt. Dieser spezielle Klang schaffte es sogar in den ReRen-Youtube-Jingle. Ich befasste mich intensiv mit dem Spiel der walisischen Harfenmanuskripte und erlernte die entsprechende Dämpfungstechnik. Und so kam ich überhaupt als erste Schnarrhakenharfenspielerin an die Schola: Einige wussten, dass diese Technik tatsächlich im 15. Jahrhundert (und je nach Region auch weit darüber hinaus) praktiziert wurde – Crawford Young, mein damaliger Professor, war sehr ermutigend, und so auch Heidi Rosenzweig ... Die übrigen haben sich mit etlichen wenigen Ausnahmen von dieser Harfentechnik abgewandt oder distanziert oder haben mich gar auf die schwarze Liste gesetzt. Scherz beiseite: Heute, zwei Jahrzehnte später, spielen die meisten SCB-Harfenstudenten mit Schnarrhaken. Paulus Paulinus berichtet dazu im Jahre 1460, dass nur Orgel und Trompete lauter waren als die Harfe, obwohl die Harfen jener Zeit – so wie die E-Gitarre – ohne grossen Resonanzkörper gebaut wurden, also relativ massiv waren, mit einem sehr ineffizienten, schmalen Korpus, aber eben mit diesen seltsamen, mitschwingenden Accessoires, den Schnarrhaken.

TC: Einfache Modelle der Harfe waren ja bereits im Altertum bekannt und beliebt, so auch im asiatischen Raum. Gibt es japanische oder ostasiatische Musikformen, die man mit unserer Harfen- oder Leiermusik vergleichen könnte? Oder tauchten sie mit der europäischen Harfe in eine völlig neue Welt?

 

MA: Nicht wirklich. Es gab die Kugo, die aus China bekannt waren, aber sie kamen bereits im 9. Jahrhundert aus der Mode, als die Japanisierungsreform der Musik und Kultur in der Heian-Zeit stattfand. Diese östlichen Harfen kamen aus dem Mittleren Osten oder Persien über die Seidenstrasse. Man kann sie bei den Boddhisatvas sehen, die im Byodoin-Tempel in Kyoto verschiedene Instrumente spielen. Die Musik, die sie aufführten – da bin ich wirklich kein Experte – hatte aber mit der europäischen Musik und den europäischen Harmonien wenig gemeinsam. Vielleicht haben jene Harfen in der Form eine gewisse Ähnlichkeit mit unseren Instrumenten und vielleicht sogar mit der Einstimmigkeit unserer frühen mittelalterlichen Musik. Da bin ich zu wenig informiert und müsste selbst nachforschen.

TC: In Europa haben Sie sich vom Mittelalter bis in die Neuzeit durch viele Harfentypen durchgearbeitet und durchgespielt. Wie kam es zu Ihrer Vorliebe für die Literatur der Frühen Musik?

 

MA: Als ich damals in Japan mit dem Klavierspiel begann, musste ich schlicht viel zu viel deutsche und österreichische Klassik und Romantik spielen, und viel zu wenig aus anderen Epochen, dazu kamen unzählige Etüden von Czerny. Mir wurde das irgendwann zu viel und ich begann, mich für andere Harmonien zu interessieren, so insbesondere jene der Impressionisten und der Alten Musik. So wirkten John Dowlands Lieder und seine Harmonien sehr frisch und unmittelbar und besonders gefiel mir die schlichte Eleganz der Musik aus dem 15. Jahrhundert, deren kompakte, aber perfekte Farbe der Harmonie. So kletterte ich während des Musikstudiums an der Schola in der Musikgeschichte nach und nach zurück, und nun wieder vom Barock in die Klassik, die Romantik und in die Gegenwart! Mittlerweile bin ich mit Haydn, Mozart und Beethoven wieder glücklich. Ich bin aber froh, dass ich mit der Dreistimmigkeit des 15. Jahrhunderts einen kompletten Neustart erlebt habe. So erfahre ich nun die spätere Musik unglaublich viel farbiger und spannender.

TC: Die Alte Musik kennt im Vergleich zu klassischen und nachklassischen Epochen mit der Laute, der Theorbe, dem Salterio, der Mandoline und den verschiedenen Harfentypen eine auffallend reiche Auswahl an Zupfinstrumenten. Warum ist dieser Reichtum verschwunden? Hat die neue Musik an Intimität verloren?

 

MA: Vielleicht sind die Zupfinstrumente fürs Orchester zu leise. Denn die Orchester und so auch die Bühnenmusik wurden immer grösser, die Instrumente immer schwerer und lauter. Und so verkümmerten die Einsatzmöglichkeiten für die Zupfinstrumente, zumindest in grösseren Besetzungen. Zupfinstrumente werden in der zeitgenössischen Musik aber wieder öfters benutzt, sowohl in der Ensemble-Besetzung wie auch als Soloinstrument. 

TC: Wie erleben sie das vermehrte Interesse des Publikums für die Frühe Musik, insbesondere des Barock? Wird es zu einem ähnlichen Revival der Renaissancekompositionen kommen oder bleiben die weniger bekannten Namen dieser Zeit eher einem Nischenpublikum vorbehalten?

 

MA: Das ist eine komplizierte Frage! Es gibt mittlerweile ein Interesse für die Frühe Musik, die sich aber eher marktorientiert präsentiert, also eher wenig zu tun hat mit einer historischen Aufführungspraxis, sondern sich an Starsängern orientiert, die vielleicht eine tolle Stimme haben, unabhängig davon, ob die Sänger sich mit historischer Aufführungspraxis beschäftigen oder nicht. Sie singen irgendetwas Barockes und Schönes und das verkauft sich gut; das Interesse des Publikums an der Aufführungspraxis ist meist gering. Trotz dem Interesse an der Alten Musik verkaufen sich aufführungspraxisorientierte Projekte weniger gut, vor allem wenn es um den Gesang geht. Das Publikum möchte gerne «Persönlichkeiten» sehen und eine Show erleben, was auch nachvollziehbar ist. Und die Opernbetriebe bevorzugen Stimmen, die für den modernen Opernbetrieb und deren Räumlichkeiten besser tauglich sind. So bleiben Händel und Monteverdi zwar weiter im Angebot, was einerseits erfreulich ist, aber oft mit historisch informierter Aufführungspraxis wenig zu tun hat. Es ist eben kompliziert!

In der Instrumentalmusik hingegen, wirkt die strenge historische Aufführungspraxis weniger fremd und kommt gut an, die Musiker*innen unterliegen nicht demselben Marktdruck wie die Sänger*innen. Mir scheint, dass es bei der Instrumentalmusik eher zu einer Win-Win-Situation kommt: die Musiker*innen haben Spass an ihrer Recherche, die Schönheit wird hörbar... und dem Publikum gefällt’s! 

Da Renaissancemusik eher schlicht im Drama und speziell im Klang ist, haben wir es hier mit einem spezielleren Publikum zu tun. Andererseits erlebe ich das Publikum oft auch als offen und neugierig für Unbekanntes! Ich bin sehr begeistert, dass diese Renaissance-Konzertserie die Gelegenheit für neue Entdeckungen bietet! Ich denke, ob die weniger bekannten Namen einem Nischenpublikum vorbehalten bleiben oder nicht, hängt ein wenig davon ab, wie wir die Musik präsentieren und wie wir die Menschen mit offenem Interesse und Neugier anlocken können. Es ist eine sehr spannende Frage, wie man die historische Aufführungspraxis oder auch ein spezielles Repertoire oder musikgeschichtlich unbekannte Themen, einem Publikum nachvollziehbar und reizvoll präsentieren soll.

 

Team ReRenaissance

Das Interview Juni 2021 – Tessa Roos

 

Die Renaissancespezialisitn Tessa Roos,
singt im Konzert um Henry VIII, zusammen mit zwei  weiteren Sänger*innen
und drei Instrumentalis*innen mit Gambe, Blockflöte und Harfe
am 27. Juni, amVorabend zum 530sten Geburtstag des berüchtigten Henry VIII.

Thomas Christ spricht mit der Renaissancegesangs-Spezialistin Tessa Roos

Thomas Christ: Natürlich ist es uns eine Freude, Sie in unserer Interviewreihe zu begrüssen, doch ich fürchte, dass Sie meine erste Frage schon viele Male haben beantworten müssen: Wie kommt man von Südafrika in die Welt der Frühen Musik des Alten Kontinents? Wer hat ihre Stimme entdeckt?

 

Tessa Roos: Hallo Thomas, Danke für das Interview!

Ich fühle mich unglaublich glücklich, überhaupt die Wahl und die Gelegenheit gehabt zu haben, für das Studium der Frühen Musik nach Europa zu kommen. Als Mitglied einer musikalischen Familie, sang ich seit je her in vielen Chören und ich liebte diese Welt, die sich oft auch mit der Volksmusik verbunden zeigte. Und je kleiner die Chor-Ensembles wurden, desto mehr widmeten wir uns der Frühen, aber auch der zeitgenössischen Musik – und so nahm auch meine Begeisterung zu. Nach einem Bachelor Abschluss in klassischer Musik an der Stellenbosch Universität in Südafrika und einem Lehrerdiplom der Cape Town University war mir klar, dass ich mich dem Studium der Alten Musik widmen wollte. Es existiert tatsächlich eine Musikszene für Frühe Musik in Südafrika, sie hat aber nicht die Grösse und das Angebot für einen vollen Studiengang – da war für mich klar, dass ich den Weg nach Europa suchen musste. So entdeckte ich einen Kurs von Evelyn Tubb und Anthony Rooley an der Schola Cantorum Basiliensis, der sich den Madrigalen des 16. und 17. Jahrhunderts widmete – da bewarb ich mich um eine Aufnahme. Ich wurde in ein Master Programm auch aufgenommen, wo ich mich vertieft mit der Musik der Frühbarock, Renaissance und des Mittelalters befassen konnte

TC: Welches sind ihre liebsten Begleiter, die Lauten, die Gamben, die Flöten oder andere Sänger? Begleiten sie sich auch selbst instrumental?

TR: Sie sind alle toll, die Vorlieben orientieren sich eher an der begleitenden Person als am Instrument selbst. Mit jeder der genannten Optionen können unterschiedliche Gefühle betont werden und so ergeben sich mit den verschiedenen Begleitinstrumenten auch unterschiedliche künstlerische Möglichkeiten. Aber meine erste Wahl gilt klar der vokalen Mehrstimmigkeit: in einer Gruppe von Sängern fühle ich mich immer am wohlsten. In Basel sind wir natürlich von der enormen Fülle an professionellen Musikern verwöhnt. Von einer Laute begleitet zu werden ist eine wunderbare Erfahrung, ihre reichhaltige Zartheit geniesse ich sehr, sie hat in ihrer unverrückbaren Offenheit etwas unglaublich Ehrliches – da wird kein Ton versteckt. Auch mit den Flöten (Quer- und Blockflöten) ist ein Zusammenspiel anregend, da sie auch den Atem und dieselben Tonhöhen benutzen. Sie erlauben auf ihre Art eine gemeinsame Farbmischung. Aber überdies habe ich mich völlig in die Welt der frühen Streichinstrumente verliebt – die professionellen Gamben und Gambenconsorts in Basel bieten eine einmalige Begleitung und die Möglichkeit, mit ihnen zu singen ist einfach grossartig.

TC: In den letzten Jahren – und mit dem Corona Lock down noch vermehrt – hat die Möglichkeit der digitalen Performance und damit auch die Anonymisierung des Publikums enorm zugenommen. Empfinden Sie das als Fluch oder Segen, als gefährlichen Verlust eines Publikumsdialogs oder als bereichernde Erweiterung ihrer Kunst?

TR: Als Notmassnahme, also für den Umgang mit den Pandemiebestimmungen, ist die Möglichkeit eines Konzert-Streamings eine grossartige Alternative und wir freuen uns natürlich, dass wir immer noch spielen und ein Publikum erreichen können, wenn auch nicht am Ort des Geschehens. Auf längere Sicht kann ich mir aber nicht vorstellen, dass sich die Musiker mit einem Video-Dasein abfinden wollen und können, denn dies ist schlicht nicht die Form unserer Kunst, für die wir hier sind. Natürlich höre auch ich gerne Tonaufnahmen und ich bin sogar froh, dass sie existieren, aber der Vortrag unserer Kunst ist nicht primär dazu da, unmittelbar in einer Tonkonserve festgehalten zu werden.

Einerseits ist es schön, zu spielen und zu wissen, dass wir unsere Kunst mit den unterschiedlichsten Leuten teilen – und ebenso als Zuhörer, Konzerten beizuwohnen, welche sie ohne ein Streaming überhaupt nicht entdeckt hätten. Andererseits ist die musikalische Kommunikation ohne jenes menschliche Element eine befremdliche Sache und der Verlust des Dialogs mit den Zuhörern macht für unsere Kunst keinen Sinn, jedenfalls nicht in der Szene der Frühen Musik. So glaube ich, dass Vortragende und Zuhörer letztlich in gleichem Masse die digitalen Konzerte nicht als valable Alternative sehen. In der Musik geht es um Kommunikation – wenn nun die Musiker so spielen sollen, als wäre ein Publikum präsent, das nicht wirklich da ist … dann kann das Ganze einen seltsamen, ja komischen Anstrich bekommen. Man kann ein Konzert aufnehmen, aber es muss ein Publikum präsent sein, wo wäre sonst der Adressat unserer Kunst?

TC: Vielleicht mehr als die Klassik erlaubt und spielt die Welt der Renaissance und des Barock mit Verzierungen oder gar kleinen Improvisationen, könnten Sie sich vorstellen, musikalische Cross Over-Projekte mitzugestalten oder haben Sie als Sängerin an Aufführungen der Neuen Musik oder des Jazz mitgemacht?

TR: Tatsächlich habe ich mich in Südafrika für einige Jahre mit dem Jazzgesang versucht und hätte auch in Cape Town beinahe statt klassischem Gesang Jazz studiert. Ich bin nicht sicher, ob ich den Begriff «Cross Over» benutzen würde, aber solche Formen der Zusammenarbeit finde ich wunderbar. Die Interaktion mit Musikern oder Künstlern, die in anderen Epochen zu Hause sind, kann äusserst inspirierend und bereichernd sein. Und überdies erreicht man mit solchen Kooperationen neue Zuhörerkreise, neue Aufführungsorte, man lernt neue Komponisten kennen und wird mit anderen Konzerttraditionen konfrontiert. Natürlich geniesse ich meine Spezialisierung in der Welt der Frühen Musik und ebenso, in einer Szene mit geneigter Zuhörerschaft aufzutreten, aber die Pflege der Verbindung und der Neugier anderer Kreise, ausserhalb unserer Welt ist ohne Zweifel erfrischend und lehrreich.

TC: Natürlich kommt mein Interesse für Ihre vielseitigen Interessen nicht von ungefähr, denn auf einer Website lese ich: «Tessa is working towards becoming a Wine Master.» Abgesehen von den Parallelen der edlen Musik zum edlen Wein könnte sich hier der Kreis zu Ihrer südafrikanischen Herkunft wieder schliessen. Oder liege ich da mit meinen Konklusionen falsch?

TR: Nein, Sie haben recht. Aber seit ich in die Basler Musikwelt eingetaucht bin, habe ich leider nicht mehr viel Zeit für dieses «heimatliche» Hobby, aber ich hoffe sehr, die Tätigkeit bald wieder aufzugreifen! Einige meiner Familienmitglieder besitzen Weingüter – wenn man in den Rebbergen von Stellenbosch in Südafrika aufgewachsen ist, ist es undenkbar die Weinkultur und die dazugehörende Szene einfach zu ignorieren. Im Idealfall verbinde ich meine Weinkenntnisse eines Tages mit meiner beruflichen Routine, aber bis es so weit ist, lerne ich im Stillen weiter.

 

 

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Team ReRenaissance

Das Interview Mai 2021 – Véronique Daniels

Im Konzert am 30.Mai steht ein Tanzkonzert auf dem Programm. 

Wir verlassen zwar die Instrumental- oder Vokalmusik im engeren Sinne, bleiben aber mit den Themen der Notation und des Tanzes des
15. Jahrhunderts ganz in der Welt der Renaissance.

Thomas Christ spricht mit der Renaissancetanz-Spezialistin
und Leiterin des Mai-Programmes Véronique Daniels

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TC: Liebe Frau Daniels, Sie haben vor vielen Jahrzehnten an der Schola ein Blockflötenstudium abgeschlossen. Wie kam es damals zur Liebeserklärung an den Renaissancetanz?

 

VD: Als ich 1975 anfing, in Strassburg Blockflöte und Alte Musik zu studieren, begann ich auch die traditionellen Tänze zu lernen. Ich besuchte viele Workshops und lernte von Tänzer*innen kennen, die neben dem traditionellen Repertoire insbesondere auch die französischen Tänze des 16. Jahrhunders und die englischen Countrydances unterrichteten. Instrumentale und vokale Tanzmusik aus dem 16. Jahrhundert ist uns überliefert und war mir als Blockflötistin auch bekannt; mich interessierte sodann, durch das Erlernen der Tänze auch die Musik für die Tänzer besser spielen zu können. Gleichzeitig half mir der Tanz, der Geschichte einer Epoche näherzukommen. So fing ich an, , den Tanztraktat von Thoinot Arbeau (1589), die Orchésographie, zu lesen und lernte, wie man sich beim Tanzen zu verhalten hat, wie ein Mann seine Dame zum Tanz einlädt, wie die Dame sich dem Mann gegenüber verhält und bei welcher Gelegenheit eine Pavane oder ein Branle getanzt wird. Später habe ich mich für die italienischen Tänze der Renaissance interessiert, habe Tanztraktate gesucht, Mikrofilme zu früheren Quellen für die Schola bestellt und versucht vieles nachzulesen – doch ich konnte damals kein Italienisch und begann, gemeinsam mit einer italienischen Bekannten zu lernen und zu forschen. Wir fingen auf der ersten Seite des handgeschriebenen Traktats von Domenico da Piacenza an. Das war für beide eine enorme Herausforderung, denn die Texte zum Tanz werden da mit Zitaten von Aristoteles in einen philosophischen Kontext gesetzt. Spannend war es … aber das Studium brachte mich noch immer nicht zu einer praktischen Aufführungsanleitung der Tänze – und ich wollte tanzen! So habe ich nach weiterer Hilfe gesucht. Es gab kaum jemanden, der Erfahrung mit diesen historischen Tänzen hatte. Doch als ich von einem Kurs am Conservatoire Populaire de Genève mit Andrea Francalanci hörte, begann für mich eine wunderschöne Reise. Andrea hatte in Italien mit Barbara Sparti gearbeitet, er las und erklärte die originalen Tanzquellen und verfügte über gute musikalische Kenntnisse, wenngleich er kein Spezialist der Alten Musik war. Wir fingen an, uns regelmässig auszutauschen, mein Italienisch wurde besser und ich konnte die Texte zu den Tänzen immer besser lesen und verstehen und mir klare Vorstellungen zu einigen Choreographien machen. Da ich ein grosses Interesse für die Notation der Musik hatte, konnte ich nun nach musikalischen Lösungen für die Tänze suchen. Es war damals äusserst schwierig, an Arbeitsmaterial heranzukommen. Ich erinnere mich an den Tag, wo Andrea mit dem Auto aus Florenz nach Basel zu Besuch kam. Im Kofferraum waren zwei Kisten mit Büchern, Faksimiles (rückvergrösserte Mikrofilme) und Fachartikeln, die damals schwer zu finden waren. Ich durfte mir alles anschauen und fotokopieren. Es war ein Fest!

Später reiste ich nach Urbino, um einen Kurs bei Andrea und Maestra Barabra Sparti, der grande Dame des italienischen Tanzes zu besuchen. Und da war ich nun in dieser magischen Stadt, sozusagen als Gast bei Federico da Montefeltro. Die Beschreibungen von Castiglione in Il Cortegiano wurden lebendig und wir tanzten im Palazzo Ducale im grossem Saal, im Piano Nobile im ersten Stock, der so gebaut ist, dass das ganze Gebäude mitschwingt, wenn dort gelaufen, oder getanzt wird.

 

Die Rolle des Tanzes als Teil der Gesellschaft zu verstehen, war mir von Anfang an ein wichtiges Anliegen. Der Tanz war auch Teil der Ausbildung des Adels, er spiegelte das Profil einer Gesellschaft, zeigte die Rolle der Frau und wie eine soziale Gemeinschaft funktionierte. So sind zum Beispiel in Frankreich und im Burgund die bekannten Basses danses des späten 15. Jahrhunderts immer Paartänze: Ein Mann lädt eine Frau ein und das Paar tanzt alleine, hin und her, immer parallel. Jede Basse danse beginnt und endet mit einer Révérence (Verneigung), der Reiz liegt in der Mémorisation (dem Auswendiglernen) der unregelmässigen Schrittfolgen. Falls der König im Saal präsent ist, schaut er eher zu und tanzt nicht mit. In Italien wiederum darf eine Frau einen Mann einladen, sie darf einen Ballo anführen, die Tänze sind nicht nur Paartänze, viele sind für drei Tänzer*innen (2 Frauen und einen Mann, oder umgekehrt) oder sogar für mehr, manchmal bis zur 10 Tanzenden, gedacht.  Beim Tesara, einem Webtanz von Domenico da Piacenza (1420–1475), sind 4 Paare plus zwei zusätzliche Männer vorgesehen. Durch Bezugslinien, die sich zwischen den Tänzer*innen auf- und abbauen, sozusagen spannen und entspannen, entstehen symbolische Figuren. Die Tänze beginnen direkt mit einem freien Saltarello, ohne anfängliche Riverenza (Verneigung), und der italienische Duca (Herzog) einer Stadt ist in der Regel anwesend und tanzt mit. Später, im 16. Jahrhundert, werden alle Balletti mit einer Riverenza begonnen und beendet, und es entsteht eine Vielzahl von Paartänzen. Ganz klar: König, Kaiser, Papst regieren in den verschiedenen Regionen Italiens und prägen die Tanzstile massgeblich!

 

TC: Die klassischen Ballettchoreografien kennen seit einigen Jahrzehnten eine Tanznotation – hat man im Spätmittelalter und in der Renaissance bereits ähnliche Niederschriften von Tanzschritten gekannt oder haben sich diese nur mündlich überliefert?

 

VD: Die ersten Tanzquellen, die uns bekannt sind, sind diejenigen von Domenico da Piacenza (vor 1455) und Guglielmo Ebreo da Pesaro (1463). Es waren keine Bühnentänze, sie wurden vornehmlich in aristokratischen Schichten getanzt, bei festlichen Anlässen, aber auch in den Palästen in intimeren Kreisen. Die Choreografien sind in Texten überliefert und es gibt bei den Balli oft eine spezifische Melodie dazu. Guglielmo stellte diese Melodien am Ende seines Traktates zusammen, Domenico hingegen fügte sie direkt vor jeder Tanzbeschreibung ein, und so wurde es auch im 16. Jahrhundert bei den Tanztraktaten von Fabritio Caroso und Cesare Negri gemacht. Der Erste, der eine Art Tanznotation benutzte, war Thoinot Arbeau (1520–1595). Er liess die Melodie eines Tanzes vertikal drucken und schrieb die Schritte horizontal dazu. So kann man sehen, bei welcher Note der Melodie, welcher Schritt zu machen ist. Solche einfachen Angaben sind von der barocken Tanznotation eines Raoul-Auger Feuillet (1653–1710) aber noch weit entfernt und kaum damit vergleichbar. Dennoch zeigen Arbeaus Aufzeichnungen in der Renaissance erstmals eine direkte, klar notierte Beziehung zwischen Bewegung und Musik. Sie erlauben noch keine langen Textangaben; bei Arbeau finden wir keine grossen Choreographien, keine beschriebenen Figuren, keine detaillierten Variationen. Im Gegensatz zu seinen italienischen Kollegen bleibt er bei der Beschreibung von Grundformen, von Ketten- oder Kreistänzen, die keine detaillierten Raumbewegungen aufzeigen. Der zu lesende Abstand zwischen den Noten und den choreographischen Angaben wäre zu gross und eine notierte Melodie würde sich so über viele Seiten erstrecken.

Was die mündliche Überlieferung betrifft, ist uns leider wenig bekannt. Wir wissen durch Schriftstücke und Berichtausschnitte, dass die im 15. Jahrhundert am meisten getanzte Gattung bei den Italienern der Saltarello war und dass die Quaternaria von den Deutschen getanzt wurde. Handelte es sich um improvisierte Tänze? Gab es eine bestimmte Grundform, die als Basis galt? War das regional bestimmt? Wir wissen es nicht.

Ab dem späten 15. Jahrhundert öffneten in Italien die ersten Tanzschulen. Tanzmeister, wie Guglielmo unterrichten dort und verfassten erste Anweisungen. Die Tanztraktate, die uns heute bekannt sind, stellen so einen Versuch dar, Bewegung auf Papier niederzuschreiben und festzuhalten. Sie bringen den Tanz auf die gleiche Ebene wie die Musik und dokumentieren, wie in wohlhabenden Familien, z. B. bei Festen, getanzt wurde. 

 

TC: Jede*r professionelle Instrumentalmusiker*in sollte auch zumindest laienhafte Gesangskenntnisse haben, ist er idealerweise auch ein guter Laientänzer?

 

VD: Das wäre sehr schön! In meinem Renaissancetanzunterricht an der Schola geht es genau darum, dass alle Studierenden, die ein Bachelor-Studium machen, mindestens 1 Semester Erfahrung mit diesen Tänzen und deren Musik sammeln. Das Gleiche gilt auch für den Barocktanz meiner Kollegin Barbara Leitherer. Die Studierenden sammeln Erfahrungen in den verschiedenen Bewegungsstilen, sie begleiten einander, führen und unterstützen die Tänzer*innen mit der Musik, während sie gleichzeitig von den Tanzenden geführt werden. So wird klar, dass Musik und Tanz untrennbar sind. Bei Aufführungen arbeite ich mit Musikern, die ich beim Tanzen begleitet und trainiert habe.

Ähnlich geht es den Tänzer*innen. Sie können die Tänze kaum lernen ohne ein Minimum an musikalischen Kenntnissen. So haben meine Mittänzer Martin Meier als Spieler der Renaissance-Traverso und Chrisitan Tanner als Lautenist Erfahrungen mit der Frühen Musik und ihren entsprechenden Notationen. Beide trainieren bei mir seit vielen Jahren Renaissance-Tänze. So sind sie gewohnt, auf meine zahlreichen Interpretationsfragen, Änderungsvorschläge, aber auch wissenschaftlichen Zweifel zu reagieren und sich mit kenntnisreicher Flexibilität anzupassen. 

 

TC: Zur Notationskunde – der Musikdruck der Neuzeit kennt klare Takt-, Metrum- und Rhythmus-Angaben, diese scheinen mir in den alten, originalen Notationen weitgehend zu fehlen. Doch gerade die Zählkunst, die Rhythmusschläge waren im Kanon der Frühen Musik von grosser Bedeutung. Können sie uns kurz erklären, an welchen Grundregeln des Zählens, Schreitens oder der Tempi man sich orientiert hat?

 

VD: Parallel zum Tanz pflege ich meine Liebe zur Notation der Musik. Generell geht es in der Entwicklung der Notation um Rhythmus und um rhythmische Organisation. Bei den Tänzen weiss man, ob eine Tanzgattung schneller oder langsamer ist als eine andere und ob ein Stück in einem Zweier- oder einem Dreierrhythmus geschrieben ist.

Wir haben in der Renaissance typischerweise keine genauen Informationen zu den Tempi. Arbeau versucht die Geschwindigkeit eines Tanzes durch Ausdrücke wiederzugeben. Die schnelleren Tänze bezeichnet er als légères, die langsameren als médiocre und die langsamsten als graves, freilich gibt es auch Zwischenstufen wie légèrement médiocre, médiocrement léger oder médiocrement grave etc. In Domenicos Traktat finden wir eine in sechs Abschnitte geteilte Tempo-Skala, die die vier verschiedenen Tanzgattungen jeweils in Sechsteln miteinander verbindet. Das kann im Einzelfall zu durchaus anspruchsvollen rhythmischen Interpretationen führen. Beschrieben wird auch, ob die Musik bei einem Tanz, wie z. B. der Bassadanza, mit oder ohne Auftakt anfangen sollte. Viel mehr wird oft nicht verraten. Um die Tanzmusik entziffern zu können, braucht es Erfahrung sowohl mit der Notation als auch mit dem Tanz. Es ist um die Mitte des 15.Jahrhunderts durchaus üblich, keine oder nur wenige Mensurzeichen zu verwenden. Die Mensur (d. h. die Taktart) wird durch den Kontext erkannt und die Tanzbeschreibung verrät meistens die Tanzgattung. Innerhalb eines Ballo wechselt der Tanz zwischen den vier verschiedenen Tanztypen, was bei der Musik zu verschiedenen Mensurwechseln führt. Manche Aspekte der Notation folgen dabei vielleicht nicht genau dem generellen Noten-Kanon der Zeit – dennoch finden wir in der Notation der Tanzmusik Elemente, die sehr typisch sind im Kontext ihrer Zeit (z.B. Minima-Äquivalenz, d. h. ein auch über Mensurwechsel hinweg unveränderlicher, kleinster Notenwert, und Alteration, das Prinzip, bestimmte Passagen in halben Notenwerten zu notieren).

 

 

TC: Sie haben das Privileg, nun schon einige Jahrzehnte in der Forschung der Alten Musik und der alten Aufführungspraxis tätig zu sein. Hat sich am Interesse für den Tanz und insbesondere dessen Gleichstellung mit den anderen Sparten des musikalischen Ausdruckes etwas verändert? Seit einigen Jahren kennen wir in Basel ja bereits den Renaissanceball! Oder fördert die Entdeckung des Renaissance Tanzes gar die Verbreitung der weltlichen Renaissancemusik?

 

VD: Es gibt heute immer mehr Leute, die Erfahrung mit den historischen Tänzen haben und sich spezialisieren, auch auf professioneller Ebene. (Heute würde ich nicht mehr so lange suchen müssen, um diese Tänze erlernen zu können, ich würde sogar auswählen können, bei wem ich anfangen möchte!) Die Tatsache, dass wir heute diese Tänze wieder pflegen, hat einen Einfluss auf die musikalische Interpretation der Tanzmusik, das ist ganz klar. Wir sammeln alle Erfahrungen, lesen die Quellen weiter und suchen das, was vielleicht hinter den Texten stecken könnte. Wir lernen in jeder Epoche den Ausdruck einer anderen Körpersprache. Die Schritte, also gewissermaßen die Buchstaben unserer «Tanzsprache», verbinden sich zu Wörtern und Phrasen, wir tanzen zu zweit, zu dritt und auch zu mehreren, bilden  gemeinsam geometrische Figuren, fügen Ornamente hinzu und sind fähig, wenn sich die Gelegenheit ergibt, zu improvisieren. Sich informieren, interpretieren, verzieren, variieren und improvisieren sind Begriffe, die zu unserem Alltag gehören, sowohl in der Frühen Musik, als auch im frühen Tanz. Das Studium des Tanzes hilft uns, die Sprache und den sozialen Kontext einer Kulturgemeinschaft – und schliesslich einer Gesellschaft – besser zu verstehen.

Es stimmt, dass ich zusammen mit der Musikschule der Schola eine Art neue Renaissanceball-Tradition ins Leben gerufen habe. Es werden während ca. drei Stunden Tänze, wie sie von Thoinot Arbeau beschrieben werden, aufgeführt. Es geht meistens um Paartänze sowie um Ketten- und Reihentänze, die früher bei bürgerlichen Festen und Banketten praktiziert worden sind. Die Musik dazu findet sich oft in den frühen instrumentalen Drucken, sodass interessierte Musiker Zugang haben und die Melodien spielen können. Das Repertoire der Branles und der Pavanes eignet sich besonders gut für solche Tanzevents – am 29. Januar 2022 wird es wieder soweit sein.

In der italienischen Renaissance hat hingegen beinahe jeder Tanz eine eigene Choreographie, die sich wegen der reichhaltig beschriebenen Figuren und wegen den möglichen Variationen hier nicht so einfach erklären lassen. Zu jedem Tanz existiert eine eigene Musik, die uns aus dem 15. Jahrhundert entweder als Melodie überliefert ist oder als Lautentabulatur gedruckt wurde oder eben überhaupt nicht in Form von Noten vorliegt. Die Musiker*innen müssen dann den jeweiligen musikalischen Stil erkennen und eine Tanzmelodie komponieren, arrangieren oder improvisieren – unser Trio mit Marc, Silke und Félix meistern diese Herausforderung dank ihrer langjährigen Erfahrung.

Bei unserem «getanzten Konzert» in Basel am 30. Mai 2021 werden wir Tänze von Guglielmo Ebreo da Pesaro präsentieren, wie sie vielleicht in den Sälen des Palazzo Ducale in Urbino oder in Milano aufgeführt worden sind.

Team ReRenaissance

Das Interview April 2021 – Johanna Bartz

Im Konzert am 25. April steht Musik um einen Druck von Attaingnant von 1533 auf dem Programm. Im Druck ist explizit die Interpretation mit Renaissance-Traversflötenconsort erwähnt.

Thomas Christ spricht mit Johanna Bartz, der Flötistin und Dozentin für frühe Traversflöten, die dieses Programm leitet.
 

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TC: Liebe Frau Bartz, Sie stammen aus der Gegend von Berlin, sind mit ihrer Barockflöte via Brüssel nach Basel gekommen und in jungen Jahren bereits Dozentin für Renaissance-Traversflöte an der Schola Cantorum Basiliensis geworden – ein fulminanter Werdegang. Ist Ihnen die Flöte in die Wiege gelegt worden oder sind Sie auf Umwegen zu Ihrem Instrument gestossen?

 

JB: Ich komme nicht aus einer Musikerfamilie, aber meine Eltern und Geschwister sind alle sehr musikaffin, gehen gerne ins Konzert, spielen Instrumente oder singen im Chor. Nachdem ich mich bei der musikalischen Früherziehung als eher hoffnungsloser Fall entpuppt hatte, wagten meine Eltern noch einen Versuch und schickten mich in eine Blockflötengruppe. Das machte mir unglaublichen Spass. Als ich zehn war, kam dann die Querflöte dazu, auf der ich frühere Musik vor 1800 eigentlich nicht besonders gerne spielte, sondern lieber improvisierte, meine Lieblingssongs aus dem Radio nachspielte oder eben spätere Musik übte. Der Weg zur Traverso war eher Zufall als selbstbestimmt: Als ich 14 Jahre alt war, schlug mir einer der damaligen Lehrer an meiner Heimatmusikschule im mecklenburgischen Neustrelitz vor, dieses Instrument zu lernen, da es gerade einen neuen Lehrer dafür gab und er dachte, ich sei «irgendwie der Typ dafür». Was mich damals so gefesselt hat, war, dass meine Traverso- und Barockmusiklehrer einen ganz anderen Weg nahmen als ich das bisher kannte, und zwar zeigten sie mir, dass man Musik auch strukturell denken und vermitteln kann – zum ersten Mal hörte ich auf die Relation zwischen Bass- und Oberstimme, die Harmonien waren plötzlich nichts Abstraktes aus dem Theorieunterricht mehr und die Musik bekam plötzlich rhetorische Elemente, die ich als greifbarer empfand als die irgendwie mystifizierte Musikalität, mit der man nun mal geboren wurde oder eben nicht. Danach kam eines zum anderen – mein erstes Jugend-Barocktrio, das gespannte Warten auf die nächste montagabendliche «Alte Musik – Morbach live» – Radiosendung des rbb (Rundfunk Berlin Brandenburg), Schulwechsel mit 17 Jahren nach Berlin, gescheiterte Aufnahmeprüfungen und Neuanfänge, Studium der Flöte, Instrumentalpädagogik und Traversflöte.

Die Renaissance-Traverso habe ich durch die Aufnahmen von Kate Clark und die Publikationen von Anne Smith kennengelernt. Meine Lehrer Christoph Huntgeburth in Berlin und Barthold Kuijken in Brüssel haben meinem Interesse für Renaissancemusik viel Raum gegeben. Christoph hat mir sogar meine erste Renaissance-Traversflöte gebaut! 2013 bin ich dann zum Studium nach Basel gekommen, wo ich in den Klassen von Marc Hantaï das Repertoire ab 1700 und bei Anne Smith das 16. Jahrhundert studieren durfte.

 

TC: Aus entsprechenden Knochenfunden wissen wir, dass die Flöte etwa so alt ist, wie die Menschheit, das Flötenspiel also zu den ursprünglichsten Bedürfnissen menschlicher Ausdruckformen gehört, doch über die Entstehungsgeschichte der abendländischen Traversflöte wissen wir wenig. Ist es möglich, in wenigen Sätzen einige Eckpunkte zu skizzieren oder gar einen Bezug zur französischen Renaissance aufzuzeigen?

 

JB: Über die Entstehung der abendländischen Traversflöte ist wenig bekannt.

Bei einigen Knochenflötenfunden aus dem Jungpaläolithikum von vor 40.000 Jahren ist nicht auszuschliessen, dass einige der Instrumente auch quer gespielt wurden – Beweise gibt es dafür aber (noch) keine.
Es gibt einige zweifelhafte Indizien der Spätantike über quer geblasene Flöten, aber häufig wird vermutet, dass frühe asiatische Traversotypen wie die chinesische Di oder die indischen Bansuri über Byzanz im zehnten Jahrhundert nach Europa gelangten. Sicher lassen sich Flöten im mittelalterlichen deutschsprachigen Raum, und da besonders im Bereich der Sangspruchdichtung nachweisen. Eine interessante Quelle sind die Abbildungen von Flötisten in den Cantigas de Santa Maria aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert. Obwohl immer wieder diskutiert wird, wie realistisch die dargestellten Instrumente oder musikalischen Szenen sind, ist es interessant zu wissen, dass die Cantigas aus einem Umfeld der Verschmelzung arabischer, jüdischer und christlicher Musikkultur am spanischen Hof stammen und gleichzeitig mehr als hundert Stücke aus anderen europäischen Kulturkreisen wie Italien, England, Deutschland oder Frankreich enthalten. In Frankreich und Flandern findet die Flöte zu dieser Zeit auch Erwähnung als Militärinstrument, taucht aber auch in den Kreisen um Guillaume de Machaut im Frankreich des 14. Jahrhunderts  herum auf. Danach, um 1400, wird sie dort vor allem als Engelsinstrument dargestellt. Der Gebrauch der Traverso im 15. Jahrhundert (in Frankreich) ist bisher sehr wenig erforscht worden: Bis auf Schweizer Eidgenossen, die als Söldner das Instrument in der Kombination mit einer Trommel z. B. im Burgund in den 1470er Jahren gespielt haben und einigen schriftlichen Erwähnungen, ist die Quellenlage eher dünn. Erst Anfang des 16. Jahrhunderts findet die Traverso nicht nur als Militärinstrument, sondern auch im Consort in ganz Europa weite Verbreitung.

 

TC: Wie Ihnen aus Ihrer Konzerttätigkeit bekannt ist, erfreut sich die Barockliteratur seit einigen Jahrzehnten grosser Beliebtheit, so insbesondere auch die Barockoper, die Singspiele, aber auch die instrumentalen Werke in alter Aufführungspraxis. Die reiche Musikliteratur der Renaissance hat diesen Durchbruch noch nicht geschafft, können Sie hierzu eine Prognose oder Ihre Erkenntnisse mit uns teilen?

 

JB: Anhand meiner Konzerttätigkeit kann ich dies bestätigen – als aktive Musikerin spiele ich viel öfter das Repertoire ab 1700 als Renaissancemusik. Allerdings findet seit ein paar Jahren ein Wandel statt – so gibt es mehr und mehr junge versierte Ensembles für die Musik der Renaissance und die Ausdruckssprache dieser Epoche wird immer selbstverständlicher. Ich glaube, das liegt an einer stetig wachsenden Zahl von Audio- und Videoproduktionen und vor allem auch an dem durch das Internet vereinfachten Zugang zu diesen Aufnahmen, aber auch an der Digitalisierung der Quellen. Leider reagieren viele Konzertveranstalter und Festivals sehr zögerlich auf diese Entwicklungen. Es müssen immer erst Vorreiterensembles oder -musiker die Türen öffnen, um den Weg für Ähnliches in die renommierten Festivals zu ebnen. Solche Entwicklungen sehen wir immer wieder auch im Bereich der Barockmusik. Leider wird dem Publikum meiner Meinung nach zu wenig zugetraut – oft fallen echte musikalische Entdeckungen einem eher wirtschaftlichen Denken zum Opfer. Diese Debatte ist nichts Neues, aber interessanterweise bleibt das Problem aktuell …

Die Renaissance-Traverso wurde bis vor wenigen Jahren von nur wenigen spezialisierten Musikern gespielt, die ihre eigenen Ensembles und Consorts gründeten. Seit ein paar Jahren erfreut sich das Instrument einer zunehmenden Beliebtheit und es wird immer selbstverständlicher als Ensembleinstrument eingesetzt oder als mögliche Besetzung für virtuose Diminutionen geschätzt. Es gibt insgesamt ein grosses Interesse und viel Enthusiasmus unter Flötisten, was dem Instrument einen enormen Schub an neuen und virtuosen professionellen Spielern und vielen begeisterten Laienmusikern gebracht hat.

Meine «Prognose» zumindest zur Verbreitung der Renaissance-Traverso ist also eine ziemlich optimistische!

 

TC: Sie widmen sich auch der experimentellen und der elektronischen Musik. Handelt es sich dabei um völlig neue Erfahrungsfelder oder auch um Crossover-Projekte, in welchen etwa Melodien aus dem Mittelalter oder der Renaissance in neuen Arrangements erscheinen und so auch ein neues Publikum erreichen?

 

JB: Eigentlich beides. In Kreisen, die nichts mit älterer Musik oder historischem Instrumentarium zu tun haben, stosse ich auf viel Interesse. Schön wird es besonders dann, wenn ehrliche Neugier von beiden Seiten kommt, nämlich auch von der «klassischen» oder «Alte-Musik-Seite» – dann entstehen im besten Fall ein Dialog und Ideen für Neues.

 

TC: Sie sind nicht nur Preisträgerin zahlreicher internationaler Wettbewerbe, sondern widmen sich als «Instrumentalpädagogin» auch der Basis der Musikerziehung. Habe ich das richtig verstanden und können Sie uns kurz etwas zu Ihrem Credo in Sachen Musikerziehung in unserer Gesellschaft sagen?

 

JB: Wir leben in einem Zeitalter, in der musikalische Aneignungsprozesse eigentlich in der breiten Masse angekommen sein sollten, es aber in vielen Teilen der Gesellschaft nicht sind. Musik- und Instrumentalunterricht oder kulturelle Veranstaltungen sind den wirtschaftlich besser Gestellten vorbehalten. Überall da, wo nicht auch massiv und regelmässig der Zugang zu Instrumentalunterricht in den Primarschulen, der über die tageweise Teilnahme an Education-Projekten hinausgeht, subventioniert wird, brechen komplette Generationen von Konzertbesuchern, Musikliebhabern und schliesslich auch der professionelle Nachwuchs weg (das macht sich übrigens seit einigen Jahren an vielen europäischen Musikhochschulen bemerkbar). Musikalische Spezialisierung und Exzellenz wird unnötigerweise oft mit Abgrenzung verwechselt – Abgrenzung einer Elite gegenüber marginalisierten Gruppen, Kulturkreisen, Laien oder einfach einer breiteren Masse. Ich bin nicht so verblendet zu glauben, dass Alte Musik oder Renaissancemusik jemals ein Massenphänomen wird (obwohl das eine interessante Utopie ist, warum eigentlich nicht …), aber für den einfachen Zugang zu dieser Musik sollte grundsätzlich mit mehr Selbstverständlichkeit gesorgt werden. Ich bin davon überzeugt, dass diese Musik allen gehören sollte, dazu gehört aber auch, dass wir als Kulturschaffende Bezugspunkte für das Publikum herstellen müssen – damit die Musik nicht zu einem konservierungsbedürftigen Stück «untoter» Kultur verkümmert, sondern als echt, individuell relevant und schützenswert empfunden wird.

Ganz im Sinne von «Wenn wir’s teilen, wird’s mehr».

Team ReRenaissance

Das Interview März 2021 – Ryosuke Sakamoto

Nach dem Interview mit dem Lautenisten Crawford Young

folgt hier die Begegnung
mit einem Lautenisten der Jüngeren Generation
aus dem Umfeld der Schola Cantorum Basiliensis.

Thomas Christ spricht mit dem Lautenisten
und Gambisten des Odhecaton-Programmes 

Anker 7

 

TC: Lieber Herr Sakamoto, Sie sind in Japan geboren und haben im Jahre 2007 an der Tokyo University mit einem Bachelor in Ästhetik ihre ersten Studien abgeschlossen. 2008 kamen Sie dann an die Schola Cantorum nach Basel. Das ist weder kulturell noch geografisch eine alltägliche Reise – wie kamen sie zur Alten Musik?

 

RS: Der erste Einfluss war ganz klar. Meine beiden Eltern sind Musiker der Alten Musik (Viola da Gamba und Blockflöte). Sie haben zusammen in Europa studiert, bevor ich geboren wurde. Als ich drei Jahre alt war, fing ich an, eine Saz (türkische Langhalslaute) zu spielen, und später gab mir mein Vater eine Renaissancelaute. Wahrscheinlich war es das einfachste Instrument, um ihn zu begleiten!

 

TC: Die Laute gilt als sehr feines und im Klang als intimes, beinahe meditatives Instrument. Die Frage drängt sich auf, ob und inwiefern ein Vergleich mit dem japanischen Koto- oder Shamisen-Spiel erlaubt ist, mit welchem sie sicher in Kontakt gekommen sind.

 

RS: Persönlich habe ich sehr wenig Erfahrung mit traditionellen japanischen Instrumenten wie Koto oder Shamisen, obwohl meine Eltern einige davon besassen. Aber ich kann sagen, dass das typisch japanische Zupfinstrument Biwa denselben Ursprung hat wie unsere europäische Laute. Klangfülle und musikalische Funktion der Biwa sind denen der Plektrumlaute, dem Instrument, das ich in diesem Konzert spiele, sehr ähnlich.

 

TC: Sie haben sich bereits in Japan mit der frühen europäischen Musik beschäftigt, und zwar sowohl als Lautenist als auch als Gambist. Können Sie uns etwas über die Rezeption der Alten Musik Europas in Japan erzählen. Stammt das geneigte Publikum meist aus Tokyo?

 

RS: Konzerte mit alter Musik waren nicht selten in Japan, allerdings erst ab den 1980er Jahren. Tokyo ist ein Zentrum für Alte Europäische Musik und einige Musikhochschulen haben eine Abteilung für Alte Musik, aber keine Lautenklasse ... Und es stimmt auch, dass es nicht viele Musiker gibt, die die Musik des frühen Barock, der Renaissance oder gar des Mittelalters spielen.

 

TC: Sie haben auch einige Jahre in Schweden verbracht und brachten 2008 Ihre Kenntnisse, Ihr Wissen und natürlich Ihr Instrument in seine alte Heimat nach Europa. Ich nehme an, dass dies Ihren Dialog mit der Lautenliteratur vereinfacht und bereichert hat. Oder spüren sie die grössere Konkurrenz in Europa?

 

RS: Das erste Mal als ich das Instrument bewusst spielte, war ich noch ein kleines Kind in Schweden – schwedische Volkslieder inspirierten mich enorm. Vor allem aber habe ich mich plötzlich in die Musik des Mittelalters und der Renaissance verliebt. Ich nahm sie allerdings noch nicht als „frühe“ europäische Musik wahr, als etwas Besonderes, sondern als alltägliche Musik.

 

TC: Die Barockmusik erfreut sich in Europa seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit, während wir bei der Renaissancemusik zwar ein kenntnisreiches, aber zahlenmässig beschränktes Publikum ansprechen. Denken Sie, dass sich das in den kommenden Jahren ändern wird, dass in unserer Gesellschaft das Bedürfnis nach einem intimeren und meditativeren Musikerlebnis wächst? Inhaltlich gäbe es ja noch einiges zu entdecken.

 

RS: Ich bin vor allem ein Liebhaber der Renaissancemusik (insbesondere der Musik des 16. Jahrhunderts). Aus meiner Sicht als Performer sind die intellektuellen Aspekte (etwa die reiche Mehrstimmigkeit) der Renaissancemusik für das moderne Publikum durchaus schwierig darzustellen. Ich glaube, dass diese ReRenaissance-Reihe sicherlich ein Fenster für ein neues Publikum öffnet.

 

TC: Könnten Sie sich als Lautenist vorstellen, an einem euro-japanischen Cross-over Projekt mitzumachen, d. h. mit der Laute alte japanische Hofmusik zu spielen?

 

RS: Da die alte japanische Musik so sehr von der mündlichen Überlieferung abhängt, ist es fast unmöglich, die Musik zu rekonstruieren. Aber tatsächlich startete ich mit Joan Boronat-Sanz (Cembalo und Orgel) das Projekt 'Missione Musicorum', in dem wir die Musik aus dem späten 16. Jahrhundert spielen, als ein Jesuitenmissionar nach Japan kam. Es gibt genügend Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Japaner zu jener Zeit gelernt haben, europäische Musik zu spielen und zu singen. Kürzlich haben wir dieses Programm mehrmals in Japan und Spanien gespielt. Es wäre schön, wenn wir es auch in Basel spielen könnten!

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Team ReRenaissance

Das Interview Februar 2021 – Monika Mauch

Die bekannte Sängerin und Renaissancespezialistin
Monika Mauch interpretiert zusammen mit einem fünfstimmigen Gambenconsort Musik aus den Stimmbüchern des Kalligraphen Robert Dow. 

Thomas Christ spricht mit der Sopranistin 

TC: So viel ich weiss, wohnen Sie nicht in Basel und haben auch Ihre Ausbildung nicht an der Schola Cantorum genossen. Können Sie uns kurz erzählen, was oder welches Erlebnis sie zur Entdeckung der Frühen Musik geführt hat?

 

MM: Irgendwie haben mich Mittelalter, Renaissance- und Barockmusik schon immer fasziniert. Mit 17 durfte ich Monteverdis Marienvesper im Chor mitsingen. Diese Musik hat mich damals wie heute vollauf begeistert. Zu Beginn meines Gesangsstudiums in Trossingen, in Deutschland, wusste ich noch gar nicht, dass man Alte Musik auch studieren kann. Ich bin in meinem zweiten Jahr im Studium von einer Kommilitonin mitgenommen worden zum Unterricht von Richard Wistreich, dem damaligen Gesangsprofessor für Alte Musik in Trossingen, bei dem ich dann kurze Zeit später auch zu studieren begonnen habe. Mich hat fasziniert, wie unmittelbar die Rhetorik des Textes in frühen Rezitativen gemeinsam mit der Continuo-Stimme und der dazugehörigen Harmonik Bilder in mir auslöst, die ich dann auch dem Publikum vermitteln kann. Viele Jahre sang ich auch mittelalterliche Musik, später immer wieder Renaissance-Musik. Über die Jahre war ich hauptsächlich im frühen italienischen und deutschen Barock verhaftet. Je älter ich werde, desto mehr fasziniert mich nun aber auch die Klassik und die frühe Romantik. Es ist einfach wunderbar, die Musik aus früheren Zeiten aufzuführen, sich in die Quellen und Theorien einzuarbeiten, um dann als moderner Mensch eine informierte und doch eigene Interpretation zu schaffen. Eine Aufgabe, die immer spannend bleibt. Als ich 2009 ins deutsche Umland von Basel zog, war ich mir natürlich der breit gefächerten Möglichkeiten von Basel durch die Schola Cantorum und die angesiedelten, exzellenten Musiker bewusst. Es ist wunderbar, nun auch bei der ReRenaissance-Reihe mitmachen zu dürfen.

 

TC: Nicht nur im instrumentalen, sondern auch im stimmlichen Bereich bestehen zwischen den Kompositionen der Klassik und des Barock grosse Unterschiede, so sind auch entsprechende Berührungsängste durchaus verständlich – wie sehen Sie dies in der Musik der Renaissance? Ist jede Barockinterpretin auch eine Renaissance-Sängerin?

 

MM: Das ist eine sehr gute Frage! Ich finde, dass dem modernen Alte-Musik-Sänger sehr viel abverlangt wird, wenn er stilistisch in Gregorianik, Ars Subtilior, Consort, Lautenlied, Oper, Motette, Kantate und Lied gleichermassen verhaftet sein soll. Meiner Ansicht nach ist dies unmöglich. Es ist nicht nur eine Frage der Informiertheit und des Wissens, sondern eine der Körperspannung und Muskelkraft. Wer als Sänger oder Sängerin gut Musik der Renaissance interpretiert, also sich mit den Instrumenten optimal mischt und der Gesamtinterpretation quasi nur den Text beifügt, der kann nicht unbedingt im Barock als Solist hervorstechen und eigene Kadenzen und Verzierungen entwickeln, die nicht nur die Bedeutung des Textes, sondern auch die Möglichkeiten der individuellen Stimme in den Vordergrund stellen. Es gibt aber durchaus auch Sänger*innen, die beide verwandten Stile gut beherrschen. Der Begriff des «Barock» (= verrückt) in der Musik wurde schliesslich erst im 19. Jahrhundert geschaffen. Vorher schien uns die Unterscheidung wohl noch nicht nötig.

 

TC: Das gesangliche Ornament, also jene Verzierungskunst über die Grundmelodie, gehört in der Barock- wie in der Renaissancemusik zum kleinen Einmaleins der Gesangskunst – ich habe gehört, dass sie in dieser Disziplin viele Bewunderer haben. Können Sie uns kurz erklären, wie frei oder unfrei man in dieser nicht notierten Improvisationskunst ist?

 

MM: Die Verzierungen jedweder Epoche und jedes Landes sind einzigartig und meist klar definiert. Das heisst, es liegt dem ein mehr oder weniger gut bekanntes Regelwerk zugrunde. Je mehr man sich also in einer einzigen Stilrichtung bewegt und täglich darin übt, desto freier kann man darin agieren und sozusagen «frei» improvisieren. Ich benötige jeweils immer wieder einige Zeit, auch wenn mir der besondere Stil schon bekannt ist, um mich darin wieder zu Hause zu fühlen. An die Fähigkeiten der Sänger oder der Sängerinnen in der Renaissance, die fast ausschliesslich im Stil ihrer Zeit bleiben durften, kann unsereins meiner Ansicht nach noch immer nicht heranreichen. Selbst wenn die Forschung und das Studienangebot in Basel in dieser Richtung sehr grosse Fortschritte gebracht haben.

 

TC: Die Barockmusik erfreut sich seit einigen Jahrzehnten grosser Beliebtheit und wir stellen in unserer jungen Renaissance-Reihe fest, dass auch die relativ unbekannte Musik zwischen 1400 und 1600 ein grosses neugieriges Publikum findet. Haben Sie dafür eine Erklärung?

 

MM: Wie eben schon erwähnt, steht die Musik der Renaissance auf einem festen Regelwerk, das sich aus den bereits äusserst anspruchsvollen und komplizierten Ideen des Mittelalters entwickelt hat. Ebenso, wie wir den Stil der Renaissance in Literatur, Bildender Kunst und Architektur erfassen können, wird auch in jedem Musikstück eine Architektur, ein Spiel mit Dissonanzen und Konsonanzen, eine Textur mit vielfachen Deutungsschichten geschaffen, die uns auf solch mannigfaltiger Ebene berühren können, dass auch der moderne Zuhörer sich dem nicht verschliessen kann. In unserem Dow-Programm zum Beispiel wird im Gambenconsort durch den Kontrapunkt ein Obertonspektrum geschaffen, das mich und sicher auch viele andere zu Tränen rührt. Hinzu kommen die wunderbaren alten englischen, französischen und lateinischen Texte, die ich eben schon für’s Programmheft übersetzt habe. Im Moment lasse ich mich in alter englischer Aussprache coachen, um eine möglichst fundierte Interpretation zu liefern. Ich glaube und hoffe, dass ein Publikum eine solche fachmännische Vorbereitung, die durch jahrelanges spezifisches Studium fundiert ist, immer spüren und in irgendeiner Form erfassen kann. Wer sich darauf einlässt, darf sich nicht schämen, wenn er zutiefst berührt sein sollte.

 

TC: Natürlich wird das Erleben eines ein Livekonzerts niemals durch ein digitales Livestreaming ersetzt werden, dennoch zwingen uns die Corona-Umstände, nach neuen Formen der Kulturvermittlung zu suchen. Sehen Sie im digitalen Angebot eher eine Gefahr oder eine Chance für das künstlerische und materielle Fortkommen der Musikszene?

 

MM: Wieder eine gute und schwierige Frage. Im Moment ist das Livestreaming oft die einzige Möglichkeit, ein Konzert überhaupt stattfinden lassen zu können. Dies ist für uns Musiker lebensnotwendig. Ohne Konzert ist ein*e Musiker*in nutzlos. Ich darf also gar nicht die Frage stellen, ob ich einen Livestream gut finde oder nicht. Er ist einfach nötig. Die Gefahren für die Musikszene liegen, so wie auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Homeschooling oder Homeoffice, darin, dass manche*r eventuell nach dem Ende der Corona-Pandemie nicht mehr zurück will zur traditionellen Form. Das fände ich im Musikbereich einen echten Verlust. So schön ein Konzerterlebnis im Livestream auch sein mag, es kann meiner Ansicht nach nicht die körperliche, auditive und seelische Manipulation in einem Livekonzert seitens der Musiker*innen aber auch seitens des Publikums ersetzen.

Team ReRenaissance

Das Interview Januar 2021 – David Fallows

Für den Verein ReRenaissance ist das Interview mit Herrn Professor
Dr.­ Dr.­ h.c.­ David Fallows ein prominenter und ehrenvoller Start ins Neue Jahr, denn David Fallows gilt in der musikwissenschaftlichen Szene als einer der international anerkanntesten Wegbereiter der Renaissancemusik-Forschung. Sein umfassender «Catalogue of Polyphonic Songs 1415–1480» ist heute jedem Sänger und Instrumentalisten der Frühen Musik
erste und unverzichtbare Referenzquelle.

Thomas Christ spricht
mit dem Autor der monatlichen Kolumne.

TC: Lieber David Fallows, Sie haben in England, in Cambridge und am King’s College in London studiert und in Berkeley, Kalifornien, dissertiert und bis zu ihrer Pensionierung an der University of Manchester unterrichtet. Sie wohnen aber in Basel, wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Schola Cantorum?

DF: Wulf Arlt invited me to present a paper for the Schweizerische musikforschende Gesellschaft in about 1983, and many students and teachers at the Schola came. Soon after that I was invited to one of the Schola congresses; and very soon after that they decided that the Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis needed to have an editorial board. They invited me and from then I became a regular visitor to Basel. In due course I developed a relationship with Dagmar Hoffmann-Axthelm, who eventually became my second wife. She thinks it rains too much in Manchester, so we live mainly here, though we both love being in our Manchester flat.

Übersetzt: Um 1983 wurde ich von Wulf Arlt nach Basel eingeladen, um einen Vortrag bei der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft zu halten. Da erschienen viele Dozierende und Studierende der Schola. Kurz darauf war ich Gastreferent an einem der Schola-Symposien und wenig später bat man mich in die Redaktionsleitung des Basler Jahrbuches für historische Musikpraxis. Mit dieser Einladung wurde ich in Basel ein regelmässiger Besucher und lernte daselbst Dagmar Hoffmann-Axtheim kennen, die schliesslich, viele Jahre später, meine zweite Frau wurde. Sie ist der Ansicht, dass es in Manchester zu viel regnet, sodass wir beschlossen, uns in Basel niederzulassen. Dennoch mögen wir unsere Wohnung in Manchester immer noch sehr.

 

TC: Jeder Forscher der Musik des Mittelalters und der Renaissance hat selbst eine musikalische Vergangenheit, wann wurde aus dem Gambisten und Cembalisten ein Musikhistoriker des 15. Jahrhunderts?

DF: Yes, anybody in the world of music begins by playing instruments. For me it was piano, home-made bamboo pipe (very much the mode in England in those days), recorder, violin; then at the age of about fifteen I started playing French horn, which is probably the instrument I got furthest with. But in my very first lecture at Cambridge – ‘Elementary palaeography’ – we were given a viol piece by Robert White to transcribe: I fell in love with the music, and when the lecturer mentioned next week that the faculty possessed a chest of viols for use by students I was first in the queue. That lecturer, by the way, was Philip Brett, who eventually directed my doctoral dissertation; and the next lecture was about the English medieval carol, given by John Stevens. Both the viol and the carol have accompanied me for the rest of my life. The next step was when I heard David Munrow do a concert in Cambridge with dances by Susato. I went into the library the next day to consult the score and was entirely gobsmacked at how simple this glorious music looked on the page. After that there was no stopping me. But I came to music history quite a bit later: I simply realised that I was happiest when exploring the manuscripts and their history. On the way through I played all sorts of instruments, as I have done all my life, though nowadays it’s mostly piano chamber music from Mozart to César Franck.

Übersetzt: Ja, in der Welt der Musik beginnt jeder und jede mit dem Spiel eines Instrumentes. Bei mir waren dies das Klavier, die selbstgebaute Bambusflöte (sie war zu jener Zeit in England sehr in Mode), die Blockflöte und auch die Geige. Doch am weitesten kam ich mit dem Waldhorn, welches ich mit etwa 15 Jahren zu spielen begann. Doch während meiner ersten Vorlesung in Cambridge – «Elementary Palaeography» – sollte ich ein Gambenstück von Robert White transkribieren. Ich verliebte mich auf der Stelle in diese Musik. Und als unser Dozent uns die Woche danach auf einen Satz Gamben aufmerksam machte, der den Studierenden zur Verfügung stünde, war ich der erste in der Reihe. Jener Dozent war übrigens Philip Brett, der Jahre später meine Doktorarbeit begleitete. Von grosser Bedeutung war auch die nächste Vorlesung von John Stevens über englische ‚Carols’ des Mittelalters. Beide Erlebnisse, die Gambe wie auch die «Carols», haben mich fortan mein ganzes Leben begleitet. Ein weiteres Schlüsselerlebnis als Zuhörer war die Entdeckung des Renaissance-Komponisten und Verlegers Tielmann Susato anlässlich eines Konzertes in Cambridge mit David Munrow. Ich studierte am nächsten Tag die Noten und war von der Einfachheit und Klarheit der Darstellung dieser wunderbaren Musik völlig überwältigt. Ab diesem Moment war es um mich geschehen, nichts konnte mich mehr zurückhalten. Aber zur eigentlichen Musikgeschichte kam ich erst einiges später. Ich stellte fest, dass mich das Erforschen von Manuskripten und ihrer historischen Hintergründe glücklich machten. Während dieser Forschungsjahre spielte ich unzählige, unterschiedliche Instrumente. Heute zieht es mich mit dem Klavier vermehrt zur Kammermusik – und zwar von Mozart bis César Franck.

 

TC: Dem Laien fällt auf, dass Sie zwar zeitlebens in England gelehrt, sich aber in ihren Werken vornehmlich der französischen Renaissance gewidmet haben, allem voran dem Komponisten Josquin des Prez, dem wohl bekanntesten Repräsentanten des späten 15. Jahrhunderts. Wie kam es zu dieser Liebe zu Frankreich?

DF: During my years in England I worked almost only on non-English music, not just French, but Spanish, Italian and German. When I worked with Tom Binkley in Munich (1968–70) my pursuit was mainly English music, as it was when I studied in Berkeley. And on the very day that I sat down in Basel with my new desk and most of my library, planning to finish my book about fifteenth-century songs, I suddenly noticed I was working on English music again, which I did for the next ten years. Now at last I am working seriously on non-English music in Basel.

Übersetzt: Während meiner Jahre in England arbeitete ich beinahe ausschliesslich an nicht-englischen Werken, nicht nur französische, auch spanische, italienische und deutsche waren dabei. Der Grund lag einfach darin, dass im 15. Jahrhundert bei weitem mehr Lieder mit französischen Texten existieren als in anderen Sprachen. Erst im Ausland, als ich in München mit Tom Binkley zusammenarbeitete (1968–1970), widmete ich mich vornehmlich der englischen Musik, ebenso erging es mir in Berkeley, Kalifornien. Und als ich nach Basel kam und mich mit meiner Bibliothek an meinen neuen Schreibtisch setzte, um mein Buch über die Lieder des 15. Jahrhunderts zu vollenden, realisierte ich, dass ich mich wieder vornehmlich den englischen Kompositionen zugewandt hatte, wenigstens für die weiteren 10 Jahre. Ich glaube, ich habe letztlich mehr Zeit mit englischen Kompositionen zugebracht, wenn ich nur schon an meine beiden Bände zur «Musica Britannica» und jenen zur «Early English Church Music» denke. Mein erstes Werk jedoch galt dem Renaissance-Komponisten Guillaume Dufay. Er gehört zu meinen Lieblingsmusikern und er ist Franzose. Heute schliesslich arbeite ich wieder vermehrt an nicht-englischer Musik.

 

TC: Josquin des Prez kann beinahe als europäischer Hofkomponist bezeichnet werden, der im Burgund, aber auch in Rom und Mailand tätig war. Dennoch erlaube ich mir die Frage, ob und wie sich mit einfachen Kriterien die italienische oder französische von der englischen Renaissancemusik unterscheiden lässt.

DF: I’m not quite ready to answer that yet. It will be there in the book, if I ever finish it. But the main question in the book is in fact the opposite: namely, How far does it make sense to see all the various language groups in fifteenth-century song as part of the same evolution? Obviously the answer is ‘up to a point’. And that’s what I am trying to clarify in my mind.

Übersetzt: Ich bin noch nicht soweit, dass ich das jetzt beantworten kann. Sie wird in meinem nächsten Buch zur Sprache kommen, wenn es denn einmal fertig werden sollte. Aber die Frage im Buch wird anders gestellt: Nämlich, inwiefern macht es überhaupt Sinn die verschiedenen Sprachgruppen in den Liedern des 15. Jahrhunderts als Teil der gleichen historischen Entwicklung zu sehen? Sicherlich bis zu einem gewissen Grade. Ich bin gerade daran, mir darüber Klarheit zu verschaffen.

 

TC: Die Liebe des geneigten Publikums zur barocken Musik erlebte in den vergangenen Jahrzehnten einen regelrechten Begeisterungssturm. Auch unsere Renaissance-Reihe in der Barfüsserkirche, wie auch unsere «Live Streaming»-Versuche erfreuen sich grosser Beliebtheit. Wie erklären Sie sich dieses gesteigerte Interesse für diese relativ unbekannte alte Musik in der heutigen Zeit?

DF: If you offer people good enough music in good enough performances they will go for it. I just delight in how more and more people in Basel are getting pleasure from the music that has given me so much joy over the decades and continues to do so.

Übersetzt:  Wenn einem Publikum Musik geboten wird, die gut genug ist und auch noch gut genug gespielt wird, ist der Erfolg sicher. Ich freue mich einfach, dass in Basel mehr und mehr Leute an einer Musikgattung Gefallen finden, die mich seit vielen Jahrzehnten mit grosser Freude erfüllt und es weiterhin

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Team ReRenaissance

Das Interview Dezember 2020 – Ivo Haun

Im Dezemberkonzert erklingt in der Barfüsserkirche geistliche Musik um Orlando di Lasso, interpretiert von einem Gesangssextett und einer Organo di Legno. 

Thomas Christ hat den musikalischen Leiter des  Abendprogrammes „Cantate“, den Renaissancetenor Ivo Haun, interviewt.

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TC: Grosse Sänger aus Brasilien sind uns aus der Musikwelt durchaus bekannt, aber wir wissen wenig über die Szene der Frühen Musik in Südamerika. So lautet meine erste Frage nicht, wie man in Brasilien zum Gesang kommt, sondern wie du dort den Weg zur Musik der Renaissance und des Barock gefunden hast.

 

IH: Mein Weg zur Alten Musik war kein direkter. Ich habe mein Studium zunächst an der Universität mit der klassischen Gitarre angefangen und mit dem Singen erst zwei Jahre später begonnen; zuerst als Nebenfach, doch allmählich spielte der Gesang in meinem Leben eine immer grössere Rolle. Meine damalige Lehrerin fand, dass meine Stimme für die Barockmusik sehr geeignet war und so begann ich, mich mehr mit diesem Repertoire zu beschäftigen. Gleichzeitig sang ich auch in einem Chor und allmählich hat der Gesang die Gitarre ersetzt. Ich hatte nicht nur mehr Freude am Singen, sondern sah auch bessere Perspektiven für meine Karriere. 

 

TC: Ist die Schola Cantorum Basiliensis in deinem Herkunftsland bekannt? Wie hast du den Weg nach Basel gefunden?

 

IH: In Brasilien gibt es einige Alte-Musik Festspiele und viele Lehrer, die beispielsweise in Basel oder Den Haag studiert haben. In diesem kleinen Umfeld ist die Schola natürlich sehr berühmt. Als ich 2009 nach São Paulo umzog, um im Chor des São Paulo Symphonieorchesters zu singen, lernte ich Marília Vargas kennen, eine Sopranistin, die an der Schola studiert hatte. Sie wurde meine Gesangslehrerin und bald war uns klar, dass ein Studium in Basel eine sehr gute Idee wäre.

 

TC: Du bist seit einigen Jahren mit der Musik des Frühbarock und auch mit der Barockoper verbunden und bist auch schon in prominenten Formationen und Ensembles aufgetreten, doch die Welt des Barock unterscheidet sich stark von der virtuosen Gesangskunst der Renaissance. Woher kommt deine Liebe zur oder Vorliebe für Musik des Mittelalters und der Renaissance?

 

IH: Interessanterweise habe ich früher in Brasilien sehr wenig Kontakt mit der Musik vor 1600 gehabt. Es war erst während meines Studiums in Basel, dass ich eine Faszination für die frühere Musik entdeckt habe. Einerseits fasziniert mich die Tatsache, dass diese Musik grosse intellektuelle Herausforderungen von den Interpreten verlangt und gleichzeitig hoch raffinierte Ausdrucksmittel verwendet, um die Emotionen der Zuhörer zu berühren. Ich finde die Tatsache besonders spannend, dass die Musik der Renaissance im Musik-Business noch nicht so etabliert ist und deshalb mehr Platz für (Wieder-)Entdeckungen bietet. Beispielsweise die Improvisationspraxis, welche normalerweise nicht mit «klassischer» Musik in Verbindung gebracht wird, ist ein wichtiger, jedoch wenig praktizierter Aspekt.

 

TC: Im Gegensatz zum instrumentalen Vortrag ist der Gesang und insbesondere der Sprechgesang eng mit der Körpersprache, mit einer unterstützenden Gestik verbunden. War Rhetorik und auch die Schauspieltechnik Teil deiner Ausbildung?

 

IH: Ja, ich habe während meines Studiums und auch danach die Gelegenheit gehabt, ein bisschen über die historische Schauspieltechnik zu lernen und versuche, so oft wie möglich meine Darstellung oder mein Auftreten als Musiker um diese Kenntnisse zu bereichern. Das Ziel jeder rhetorisch geprägten künstlerischen Aufführung ist, zu berühren, zu lehren und zu unterhalten. Damit der Inhalt unserer Darbietung seine volle Wirkung auf die Zuhörer*innen entfalten kann, spielt die körperliche Gestaltung eine entscheidende Rolle.

 

TC: Für den Musiklaien sind die Notenquellen der Frühen Musik wenig ergiebig und wahrscheinlich auch für den Insider nur mit viel Improvisationspraxis umsetzbar. Kannst du uns zur Improvisationstechnik, die dennoch dem Original treu zu bleiben versucht, etwas erzählen?

 

IH: Ich finde, dass das einer der faszinierendsten Aspekte der Renaissance-Musik ist. Anders als bei der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, war es nicht die Aufgabe eines Komponisten der Renaissance, alle Aspekte der musikalischen Aufführung genau aufzuschreiben. Die notierte Musik dieser Zeit ist eher wie die Spitze eines Eisbergs zu verstehen (wie der Musikwissenschaftler Nino Pirrota vor einigen Jahrzehnten geschrieben hat). Die Musik, die tatsächlich produziert oder aufgeführt wird, verlangt von den Interpreten eine hochvirtuose Verzierungskunst und gleichzeitig auch kompositorische Fähigkeiten. Anders gesagt, die notierte Musik ist als Skizze zu verstehen, die der Musiker anreichern muss oder sogar weitere Stimmen hinzufügen soll, wie etwa in den gregorianischen Gesängen (und anderen weltlichen Gattungen). Dies nennen wir heute Contrapunto alla Mente. «Dem Original treu zu bleiben» hatte damals somit eine ganz andere Bedeutung.

 

TC: Du hast deine Gitarre aus Brasilien mitgebracht – begleitest du dich heute nur noch mit der Renaissancelaute?

 

IH: Ja, nachdem der Gesang vor vielen Jahren den Platz der Gitarre in meinem Leben eingenommen hat, habe ich mit der Renaissancelaute eine perfekte Begleitung gefunden. In den kommenden Jahren plane ich, öfter mit der Laute aufzutreten und das Publikum von ReRenaissance wird mich im September 2021 auch als Lautenisten erleben dürfen.

 

TC: Eine letzte Frage, die ich den Kennern der Mittelalter- und Renaissance-Musik gerne stelle: Während die Barockmusik in den letzten Jahrzehnten ein breites Publikum gefunden hat, bedienen die Kompositionen der Renaissance immer noch einen Nischenmarkt. Hat sich daran – wie aktuell in Basel – bereits etwas geändert, oder wird sich daran etwas ändern?

 

IH: Diese Entwicklung habe ich in meinen zehn Jahren in Basel bereits erlebt (an mir selbst und gleichzeitig in meinem Umfeld). In den letzten Jahren haben mehrere Studenten der Schola ein Interesse für die Renaissancemusik entdeckt und Lehrer wie Anne Smith und Federico Sepúlveda haben sehr wichtige Impulse in diese Richtung gegeben. Es ist ein langsamer Prozess, aber Resultate können wir schon jetzt sehen.

Team ReRenaissance

Das Interview November 2020 – Grace Newcombe

 

 

Das Konzert «Nowell, nowell» vom 29. November entführt unter der Leitung der Sängerin und Organistin Grace Necombe in die Welt der englischen «carols» des 15. und 16. Jahrhunderts. Im Interview zeigt sich: Bereits in ihrer musikalischen Ausbildung in England brach Newcombe mit mehreren Tabus.

 

Thomas Christ trifft die Kennerin der Musikszene des Mittelalters und der Renaissance zum Gespräch.

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TC: Wie wird eine junge Frau Chorleiterin im traditionellen Hertford College und wie entsteht und wächst ihr Interesse für die Musik des Mittelalters, einem Bereich, der über Jahrhunderte von Männern dominiert wurde?

 

GN: Tatsächlich ist meine erste Musikausbildung als Kind und Jugendliche fast ausschließlich von Männern bestimmt worden: Meine musikalische Schulung begann als Kirchenchorsängerin, was in England bis heute zu Kontroversen führt. Viele Leute sind der Ansicht, dass ein Kirchenchor nur für Knaben gedacht ist. So ist auch meine spätere Ausbildung als Organistin und Kirchenchorleiterin vielerorts auf Überraschung gestossen. In den Orgel- und Chorleiterkursen war ich dann immer die einzige Frau. Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich an der Oxford University als Organistin arbeite, sind sie in der Regel sichtlich irritiert. Das ist ein wenig frustrierend. Aber beide Institute, an welchen ich meine Ausbildung genoss, also die Salisbury Cathedral wie auch das Hertford College in Oxford, setzten sich auf fantastische Art für die geschlechtliche Gleichstellung ein. Salisbury war eine der ersten kirchlichen Schulen in England, welche auch Mädchen aufnahmen. Und in Hertford betreute mich eine wunderbare Kaplanin, die mich in meiner Arbeit in der Kirche sehr unterstützte.

Meine Liebe zur Frühen Musik verdanke ich zum großen Teil dem Salisbury Cathedral Choir. Seit ich acht Jahre alt bin, singe ich Renaissancemusik, und diese Vorliebe hat sich gehalten, bis ich in meinen frühen 20er Jahren nach Basel zog. Hier entdeckte ich dann die Musik des Mittelalters und man könnte fast sagen, je mehr ich mich in Basel einlebte, desto tiefer rutschte ich in die Welt der Frühen Musik hinein. Und dennoch – hätte man mir in der Salisbury Cathedral das Mitsingen nicht erlaubt, weil ich ein Mädchen war, wer weiß, ob ich die Frühe Musik überhaupt entdeckt hätte.

 

TC: Deine musikalische Ausbildung beschränkte sich nicht auf den Gesang, sondern offenbar spielten Klavier, Orgel, die Klarinette und auch die kleine Harfe eine Rolle. Stand dabei das Studium der Stimme immer im Vordergrund?

 

GN: Das mag man nun kaum glauben, aber der eigentliche Entscheid, mich auf den Gesang zu fokussieren, entstand erst spät mit meinem Eintritt in die Schola Cantorum. Als Jugendliche gehörten die Orgel und die Klarinette zu meinen Hauptinstrumenten, natürlich konnte ich das Singen nicht lassen –dies lag mir immer sehr am Herzen. Aber ich hatte eine ungestillte Neugier, neue Instrumente zu erlernen. So widmete ich mich dem Schlagzeug, dem Saxophon, der Geige und der kleinen keltischen Harfe. An der Universität kamen dann die Renaissancelaute und die Viola da Gamba dazu. Heute bin ich glücklich, das Spielen vieler Instrumente erlernt zu haben, denn es erlaubt mir, neue «fremde» Instrumente aus der Welt des Mittelalters aufzugreifen und mich selbst beim Singen zu begleiten, was natürlich viel Freude bereitet. Überdies empfinde ich es als Vorteil, dass ich vor meinem Eintritt in die Schola Cantorum keine klassische Gesangsausbildung hatte, denn so wurde ich in meiner professionellen Stimmbildung direkt und spezifisch mit der Mittelalter- und Renaissancemusik konfrontiert.

 

TC: Zu deinen musikwissenschaftlichen Spezialgebieten gehört die Erforschung der Aufführungspraxis der Lieder und Liedtexte des 12. und 13. Jahrhunderts, also des englischen Hochmittelalters. Kannst du uns kurz etwas zu dieser musikalisch reichhaltigen Zeit erzählen?

 

GN: Die Geschichte des englischen Liedes im Mittelalter ist tatsächlich hochinteressant, denn sie beschreibt eine mehrsprachige Gesangskultur. Vereinfacht gesagt, sprachen und sangen die gebildeten Leute eine Art Altfranzösisch, während die Ungebildeten sich der englischen Sprache bedienten. So gab es neben der reichen Tradition lateinischer Textquellen auch einen enormen volkssprachlichen Fundus an Liedtexten, die sich in ihren Stilen stark unterschieden. Erstaunlich früh entstand bei diesen englischen Liedern das Interesse an der Mehrstimmigkeit und diese erfreute sich bereits im Mittelalter großer Beliebtheit. Das mehrstimmige Volkslied ist seit dem 12. Jahrhundert eine bekannte und beliebte Kunstform. Es handelte sich also eindeutig nicht um eine Erfindung der höfischen Kultur. So kam ich insbesondere in meiner Dissertation zu diesem Thema zur Erkenntnis, dass sich die Geschichte des Stils und der Spielweise mehr- und einstimmiger Lieder in England stark von jenen im französischen und lateinischen Kulturraum unterscheidet. Die Britischen Inseln erfreuten sich zu jener Zeit einer ausnehmend reichen und komplexen Gesangskultur, die in mindestens drei verschiedenen Sprachstilen erkennbar ist und manifest wurde.

 

TC: Dein beliebtestes Begleitinstrument ist nicht die Gitarre, nicht die Laute und nicht die Handorgel, sondern die kleine Harfe. Wie kam es zu dieser Wahl?

 

GN: Die Frage nach jener Harfe ist tatsächlich eine Geschichte von Freundlichkeiten anderer Leute. In jungen Jahren bekam ich eine keltische Harfe geschenkt, ein Instrument, das ich liebte und bewunderte. Als ich dann an der Schola Cantorum im Nebenfachstudium ein Instrument wählen sollte, erschien mir die Harfe als ideale Wahl. Überdies hatte ich das Glück, von der Leverhulme-Stiftung in England ein Stipendium zu erhalten. Der Stiftungsrat stellte jedoch fest, dass «lediglich eine keltische Harfe» nicht das ideale Instrument für ein Studium der Mittelaltermusik sein konnte. So wurde beschlossen, nicht nur eine, sondern gleich zwei Harfen zu finanzieren, nämlich eine für die Musik des Hochmittelalters, sowie eine gotische Harfe für das Spätmittelalter. Das war fantastisch, denn so konnte ich dank der Leverhulme-Stiftung mein Studium mit der Mittelalterharfe fortsetzen. Und so pflege ich meine drei Harfen bis zum heutigen Tag. Mein kleines Instrument ist übrigens mit Efeu und kleinen Vögeln farbig dekoriert, ganz in der Art der Buchmalereien mittelalterlicher Manuskripte.

 

TC: Beginnt in der Renaissance mit dem reichen Aufkommen neuer Musikinstrumente die Vorrangstellung der vokalen Musik der instrumentalen Aufführungspraxis zu weichen? Oder gilt das bloss für den Wandel der höfischen Musikkultur?

 

GN: Wir betrachten das 15. Jahrhundert als die Geburtsstunde der Instrumentalmusik, die sich während der Renaissance mehr und mehr ausbreitete. Ab dieser Zeit finden sich die ersten Musikhandschriften, die sich spezifischen Instrumentalensembles widmen. Aber, wie richtig bemerkt, betrifft diese Entwicklung vornehmlich die höfische Musikkultur. Übrigens liegt eine der Herausforderungen für das Verständnis und die Erforschung der Musik des Mittelalters und der Renaissance genau darin, dass wir meist nur die Perspektive der überlieferten Quellen kennen, also nur jene der gebildeten Oberschicht. Das ist ungefähr so, wie wenn in 500 Jahren zukünftige Musikologen nur auf Quellen bekannter Opern und Orchesterwerke stossen würden und zum Schluss kämen, dass diese und nur diese Literatur den Geschmack unserer Zeit wiedergäbe. Das ist nicht der Fall, und damals wie heute erfreuen sich die Menschen an einer großen Vielfalt von Musikstilen. Sowohl die instrumentale wie auch die vokale Musik kennt eine starke Tradition mündlicher Überlieferung. Die sogenannte «Geburt» der Instrumentalmusik der frühen Renaissance betrifft nur einen spezifischen höfischen Trend, der in schriftlicher Form überlebt hat. Das heisst aber keineswegs, dass die vokale Musik ihre Bedeutung ganz verloren hätte. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie sich andere, neue Musiktrends im Laufe der Jahrhunderte entwickeln und auch wieder verschwinden, ohne irgendwelche Spuren oder Quellen zu hinterlassen.

TC: Im Mittelalter war das schriftliche Festhalten von Noten noch weitgehend unbekannt. Auf Grund welcher Quellen werden heute mittelalterliche Lieder zum Leben erweckt?

 

GN: Die frühesten mittelalterlichen Notationen verstehen sich mehr als Hilfsangaben denn als klare Gesangsanleitung – sie verweisen auf die Grundstimme und setzen voraus, dass die eigentliche Melodie dem Sänger bekannt ist. In einigen Fällen taucht in späteren Liedquellen eine detaillierte Notation auf, die uns dann erlaubt, Lücken zu füllen. Bereits im Hochmittelalter kommt es zur Anwendung ausgefeilter Notensysteme, die sich dann im Spätmittelalter mitunter zu wunderbaren, mathematisch und logisch durchdachten Werken entwickeln. Am Ende des 14. Jahrhunderts notieren die Musiker*innen schon höchst komplexe Melodien, so insbesondere die rhythmischen Spielformen der Ars Subtilior (Stilepoche zwischen 1377 und 1420, Anm. TC). Diese Notationen entstehen mit professionellem Stolz und werden mit Rätseln und Bildern bereichert.

Dennoch bleiben trotz Quellen viele Fragen zur Aufführungspraxis unbeantwortet. So die Frage der Instrumentation, aber auch die Frage nach möglicher Begleitung einstimmiger Lieder. Hier können alte Bilder, Gemälde oder auch Beschreibungen helfen, bei denen meist aber wichtige Informationen fehlen. Gewisse gemalte Instrumente zeigen oft eigenartige oder sogar technisch unmögliche Details. Längst nicht alle Maler kannten die Einzelheiten der Instrumente, und ihre Werke vermitteln eher eine Grundidee als eine verlässliche Angabe zum Instrumentenbau. Als Forscher*- und Musiker*innen versuchen wir möglichst viele Quellen und Hinweise zu nutzen und zu einem Ganzen zusammenfügen.

TC: Welche Prognose stellst du für die Wiederbelebung der Musik des Mittelalters und der Renaissance? Wird sie einen ähnlichen Boom erleben, wie wir dies die letzten Jahrzehnte bei der Musik des Barock beobachten konnten?

 

GN: Das ist ein interessanter Punkt. Ich glaube, wir befinden uns in einem wachsenden boom of interest für die Musik des Mittelalters und der Renaissance, aber nicht in der Art des heutigen Marktes für Barockmusik. Anstelle eines gesteigerten Interesses an der klassisch historischen Aufführungspraxis von Mittelalter- oder Renaissance-Musik stelle ich fest, dass viele Leute in der Pop-Kultur und in Crossover-Experimenten die Faszination für jene frühe Musik ausleben. Social Media und YouTube-Kanäle offerieren in der Tat Mittelalter- und Renaissance-Hobbymusiker*innen neue Plattformen und neues Publikum. Ein Beispiel für Crossover, der auch mir durchaus Spass macht und sogar einem höheren Standard gerecht wird, ist die Gruppe Bardcore. Diese Mischung von Pop-Musik und alten Lied- und Textformen ist gerade dieses Jahr auch mit der Benutzung alter Instrumente recht populär geworden. Interessant ist in dieser Hinsicht der YouTube-Kanal Hildegard von Blingin` mit weit über 700'000 Abonnierenden – und die Musiker*innen sind durchaus talentiert! Das ist allerdings nicht mein Betätigungsfeld mittelalterlicher Aufführungspraxis, aber es ist gut gemacht. Und wer weiß – vielleicht inspiriert diesemittelalterliche Crossover-Szene einige Zuhörende, sich der klassischen Form zuzuwenden. Solche Crossover-Projekte könnten zum zündenden Funken für unsere Musik werden. Die Faszination ist da, der Boom muss nur noch in unserem Konzertsegment Wurzeln schlagen.

Team ReRenaissance

Das Interview Oktober 2020 – Mira Gloor

Flöten gehören wohl zu den ältesten Musikinstrumenten der Menschheitsgeschichte. Am 25. Oktober erklingt ein Programm, das mit einer Triosonatenbesetzung der im 16. Jahrhundert neu aufblühenden Virtuosität im Blockflötenspiel gewidmet ist.

Mira Gloor, eine der drei Blockflötistinnen, spricht als Schweizer Talent über ihre besondere Erfahrung, Blockflöte von klein auf

an der Schola Cantorum Basiliensis,

dem weltweiten Zentrum für Alte Musik, gelernt zu haben.

Thomas Christ interviewt

die in Basel lebende Blockflötistin Mira Gloor

TC: Der Basler Verein ReRenaissance freut sich ganz besonders, eine junge Basler Flötistin begrüssen zu dürfen – Mira Gloor, du scheinst seit deiner Geburt Blockflöte zu spielen, kannst du uns kurz etwas über deine langjährige Treue zu deinem Instrument erzählen.

MG: Ja, die Blockflöte begleitet mich tatsächlich schon fast mein ganzes Leben lang. Ich habe mit vier Jahren mit dem Flötenspiel begonnen und seitdem ist meine Liebe zu diesem vielseitigen Instrument stets gewachsen. Viele mussten früher in der Schule Blockflöte lernen und haben daher ein sehr zwiespältiges Verhältnis zum Instrument. Da ich selber nie in dieser Lage war und immer tollen Unterricht bei vielen verschiedenen Lehrer*innen geniessen durfte, hatte ich einen glücklichen Start in die Welt der Blockflötenmusik. Und obwohl ich später auch Geigenunterricht hatte, stand die Blockflöte bei mir immer an erster Stelle. Mir war schon sehr früh klar, dass mich dieses Instrument mein Leben lang begleiten würde.

 

TC: Du hast deine Ausbildung vornehmlich an der Schola Cantorum durchlaufen, gehörtest aber wohl als Basiliensa zu einer verschwindend kleinen Minderheit an dieser Schule. Wie hast du die internationale Ausbildungskonkurrenz erlebt, war sie bereichernd oder belastend?

MG: Ich denke, dass man auch heute noch die Basler*innen an der Schola Cantorum Basiliensis an einer Hand abzählen kann. Für mich war das am Anfang eine ganz neue Erfahrung, da ich die Musikschule der Schola während meiner Kindheit als ganz «normale» Basler Musikschule wahrgenommen hatte und natürlich nichts anderes kannte. Erst während des Studiums wurde ich mir der Exklusivität dieses speziellen Ortes bewusst. Die Internationalität der Mitstudierenden war eine enorme Bereicherung für mich. Die kulturelle Vielfalt, die unterschiedlichen Sprachen und auch die Durchmischung verschiedener Altersgruppen gaben mir sehr viel mit auf meinen persönlichen Weg. Es wird oft gesagt, dass die Schola wohl der schlechteste Ort sei, um Deutsch oder gar Schweizerdeutsch zu lernen. Für mich war sie jedoch neben all den musikalischen Erlebnissen auch die beste Sprachschule.

TC: Die Frühe Musik, und ebenso moderne Kompositionen, wie auch die Folklore gehören, soviel ich weiss, in dein Repertoire. Gibt es da auf Grund der Literatur klare Vorlieben oder ergänzen sich diese unterschiedlichen Musikwelten in deinem Musikleben?

MG: Mir ist es wichtig, eine gewisse Neugierde auf dem Instrument zu behalten, und dazu gehören auch ab und zu etwas ungewöhnlichere Programme. Die verschiedenen Stile helfen mir, musikalisch und technisch flexibel zu bleiben und zum Beispiel in der zeitgenössischen Musik auch einmal ganz neue Klänge zu entdecken. Mit meinen zwei Ensembles geniesse ich es, in die unterschiedlichen Welten der Consortmusik der Renaissance und der Kammermusik des Früh- und Hochbarocks einzutauchen.

 

TC: Die Blockflöte hat bekanntlich den Schritt in die Musik der Klassik nicht geschafft, war sie zu leise, zu intim, zu fein oder einfach zu altmodisch? Kannst du uns etwas zur Instrumentengeschichte erzählen?

MG: Dass die Blockflöte ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr in den Hintergrund geriet, hat sicherlich unter anderem mit ihren Klangeigenschaften und auch dem Tonumfang zu tun. Die Sanftheit und Süsse der «Flauto Dolce» war wohl einfach nicht mehr so gefragt und die grösser werdenden Orchester und Konzertsäle verlangten nach klangstärkeren Instrumenten Ohne ihren Dornröschenschlaf hätte die Blockflöte aber auch keine Renaissance in den Anfängen des 20. Jahrhunderts feiern können. Somit war diese Verschnaufpause vielleicht gerade ein grosses Glück für die aktuelle Blockflötenwelt, da sich seit dem 20. Jahrhundert bis heute wieder viele Komponisten mit dem Instrument auseinandergesetzt haben und zahlreiche spannende Werke entstanden sind.

 

TC: Eine letzte Frage, die ich immer wieder gerne stelle: Die Barockmusik erfreut sich seit einigen Jahrzehnten grosser Beliebtheit, während die Musik des Mittelalters wie auch der Renaissance noch ein Nischendasein mit einem wachsenden, aber weit kleineren Fanclub führt. Kannst du dir vorstellen, dass unsere Zeit auch für einen Renaissance-Boom in der Musik reif ist?

MG: Es ist schön zu sehen, dass auch die Musik des Mittelalters und der Renaissance immer mehr ZuhörerInnen in ihren Bann zu ziehen vermag. Gerade hier in Basel gibt es bereits ein tolles Konzertangebot und dazu auch ein interessiertes Publikum. Ich denke, dass dieser Trend in den kommenden Jahren sicherlich anhalten wird und freue mich, selber einen kleinen Teil dazu beitragen zu dürfen.

Team ReRenaissance

Das Interview September 2020 – Crawford Young

Trotz der Corona-Beschränkungen erfreut sich unsere junge Renaissancemusik-Reihe

in der Barfüsserkirche grosser Beliebtheit – da freut es uns besonders, in unseren monatlichen Interviews einen ausgewiesenen Kenner der Frühen Musik Europas kennenzulernen.

 

Thomas Christ interviewt den in Basel lebenden Lautenisten

und Musikwissenschaftler Dr. Crawford Young 

Dr. Thomas Christ (TC): Als Amerikaner haben Sie Ihre ersten Ausbildungsjahre in Boston verbracht – wie kommt man in Amerika zur Musik des Mittelalters und der Renaissance?

 

Dr. Crawford Young (CY): Ich bin in der Gegend von New York aufgewachsen, da war in den 60er Jahren die Musikszene äusserst stimulierend. Ich besuchte 1965 ein Konzert der Beatles, von da an ging alles von alleine. Mein Gitarrenspiel führte mich zum Studium der klassischen Gitarre am New England Conservatory, das zu jener Zeit eine hervorragende Abteilung für Frühe Musik hatte, aus meiner heutigen Sicht die beste der ganzen USA. Einer meiner Lehrer spielte uns eine Aufnahme von Thomas Binkley aus dem Jahre 1970 ‚A chantar m’er de so qu’eu no volria’ (Chansons der Troubadours, Telefunken/Das Alte Werk), das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Zur gleichen Zeit zogen einige Mitstudierende nach Basel, um bei Binkley und anderen Lehrern an der Schola Cantorum Basiliensis zu studieren. Sie meinten, er wäre der perfekte Lehrer für mich. Um 1977 wusste ich, dass ich mich ganz der mittelalterlichen Lauten-Welt widmen wollte, denn diese Musik entsprach meiner Freude an der Improvisation, meiner Vorliebe für kleine Ensembles und der vertrauten Technik des Spiels mit dem Plektrum. Dazu kam, dass man sich zu jener Zeit offensichtlich noch nicht ernsthaft um die historische Aufarbeitung der Laute vor 1500 bemüht hatte, um sie als eigenständige ‚Stimme’ auf der Konzertbühne zu würdigen.

 

TC: Warum wählten Sie für ihren weiteren Werdegang die Musikstadt Basel?

 

Ich studierte nicht in Basel. Denn 1977 verliess Binkley die Schola, nachdem er an der Basler-Schule neue Wege in der Musikvermittlung gegangen war: er kreierte einen Werdegang mit einem spezialisierten Diplom für Mittelalter- und Renaissancemusik. Wie ich mich erinnere, kam die Idee anfänglich vom brillanten Musikologen Wulf Arlt, der in den 70er Jahren Direktor der Schola Cantorum Basiliensis wurde. (Die Schola bleibt bis zum heutigen Tag das einzige Konservatorium auf der Welt mit einer separaten Abteilung für ‚mittelalterliche Musik’, also für das vertiefte Studium der Repertoires vor 1600.)

Die Idee von Thomas Binkleys Team ‚Studio der Frühen Musik’ war für mich damals, im Jahre 1977, neu und attraktiv, denn sie enthielt ein Angebot oder ein Modell einer erfolgreichen Aufführungspraxis, die im Quartett das Frühe Musik-Repertoire erforschte, eine Art ideale Verbindung von musikwissenschaftlicher Forschung und Bühnenerfahrung auf höchstem Niveau. Wer konnte davon als Karriereziel nicht begeistert sein? Und in der Tat waren zu jener Zeit an der Schola seine Studenten – übrigens, interessanterweise mehrheitlich Amerikaner – auf dem besten Weg, dieses Ziel zu erreichen; der damalige Lehrgang für mittelalterliche Aufführungspraxis veröffentlichte beispielsweise eine Aufnahme für instrumentale Musik (Estampie), die ich damals sehr überzeugend fand.

Erst als Binkley 1977 Basel verliess, reiste ich von Boston nach Stanford, um bei ihm zu studieren. Dort erreichte mich die Einladung, einem Mittelalter Quartett von Schola-Absolventen in Köln beizutreten, wo ich drei Jahre verbrachte. Dann, im Jahre 1982 wurde ich nach Basel berufen, um die Musik des Mittelalters zu unterrichten, ich übernahm sozusagen Binkleys Stelle an der Schola.

 

TC: Zu Ihrem Instrument, der Laute: einerseits ist die Laute seit der Klassik beinahe ganz aus dem Instrumentenrepertoire verschwunden, andererseits scheint sie in Darstellungen bis in die Zeit der Antike (Kithara) eine lange Geschichte zu haben. Vielleicht können Sie uns kurz etwas über die geschichtliche Bedeutung der Laute erzählen?

 

CY: Gezupfte Saiteninstrumente haben in der Geschichte der Menschheit eine besondere Rolle. Die Lyra oder die Kithara waren in der Erziehung sowie in den Wissenschaften des klassischen Altertums das zentrale Instrument, so auch in der hebräischen Kultur unter König David – in biblischen Zeiten diente es als ein Kommunikationsmedium zwischen Mensch und Gott. Diese frühzeitlichen Strömungen haben bekanntlich unsere Welt und unsere kulturellen Ausdrucksformen bis in die Gegenwart nachhaltig geformt und beeinflusst. Die Kithara hat durch die Jahrhunderte viele verschiedene Erscheinungsformen durchlaufen – gezupft, mit einem Plektrum oder den Fingern oder gar einer Klaviatur angeschlagen oder am Ende mit dem Bogen gestrichen. Wir leben heute seit über einem halben Jahrhundert unbestritten im Zeitalter der Gitarre, deren Popularität weltweit andere Instrumente in den Schatten zu stellen scheint. In der Renaissance war die Laute die Königin der Instrumente, da ihre Eigenschaften mit den Idealen des Humanismus harmonisierten: sie galt nicht nur als das klassische Instrument der Antike (der Traktat De musica von Boethius umschreibt die Kithara als das fundamentale Werkzeug, die Musiktheorie verstehen zu können), sondern galt auch als die perfekte Begleiterin der gesungenen Dichtkunst, nach dem Vorbild antiker Poeten in ihren bildlichen Darstellungen mit der Lyra. Die Laute wurde zum bevorzugten Ausdrucksmittel menschlicher Gefühle und seelischer Stimmungen, sie brachte mit ihren Harmonien und Intervallen das Intime, Private aber auch das Vergängliche in eine musikalische Form. Und, sie war im Vergleich zu manchen anderen Instrumenten, z.B. der Orgel, leicht zu transportieren und leicht zu pflegen. Die Laute wurde schliesslich auch zu einem christlichen Symbol, zu einem Standardinstrument der Engel und erscheint in der Bilderwelt höfischer Liebesszenen und verwunschener Gärten (Garden of Déduit, Roman de la Rose, Gedicht von Guillaume de Lorris, 1230). Kurz, sie wird zum Instrument des emotionalen Manifestes – da erstaunt es wenig, dass die Laute zur Ikone des Humanismus erkoren wird.

 

TC: Da Musikquellen, aber auch Hinweise auf den Bau alter Instrumente oft fehlen, nehme ich an, dass Sie sich zum Studium der ‚alten Lauten’ intensiv mit der Literatur und insbesondere mit der Bilderwelt des Mittelalters und der Renaissance auseinandersetzen.

 

CY: Ja, genau. Bei genauem Studium aller Informationsquellen haben wir erstaunlich präzise Antworten zu Fragen der Benutzung, der Spieltechnik, dem Bau sowie der Akustik der Laute in Europa vor 500 Jahren. Jede historische Quellenforschung – die visuelle, die literarische, wie auch jene des Instrumentenbaus – ist heute in jeweils unterschiedliche Forschungsgebiete eingebettet und hat auch ein entsprechendes akademisches Eigenleben entwickelt – m.a.W. das Quellenstudium und das Verfolgen der sich laufend erweiternden Forschungsfelder, entpuppt sich als eine gigantische Aufgabe und lebenslange Herausforderung. Aber dies entspricht eigentlich genau dem Versprechen, das wir eingehen, wenn wir jene Studien seriös betreiben wollen. Denn wir haben eine Verantwortung jenen Zeitgeist, jene Weltsicht, wie auch jene damaligen ästhetischen Vorlieben zu verstehen, der sich stark von unserer heutigen Optik unterscheidet. Aber dieses zeitgerechte Auftauchen jener Werke erlaubt uns, die historische Aufführungspraxis als neue Kunstform wahrzunehmen. So erfreuen wir uns heute einerseits eines noch nie dagewesenen Zugangs zur historischen Forschung, können aber noch nicht davon ausgehen, dass alle Erkenntnisse der Theorie in die Aufführungspraxis eingeflossen sind.

 

TC: Bereits in der Barockzeit hat die Laute nur noch in wenigen Konzerten überlebt, war der Barock bereits zu laut? Wie würden sie diesen frühen Rückzug des Instrumentes aus der Aufführungspraxis erklären?

 

CY: Das ist eine Frage für einen Barocklauten-Spezialisten, ich wäre unqualifiziert, darauf eine Antwort zu geben.

 

TC: In den vergangenen Jahrzehnten hat beim geneigten Publikum für klassische Musik die Neugier für die Welt des Barocks, insbesondere für die Barockoper enorm zu genommen. Könnten sie sich eine ähnliche Entwicklung für die Musik der Renaissance vorstellen?

 

CY: Unsere moderne Welt liebt das Mittelalter, oder den sogenannten Medievalismus, möglicherweise mehr als den Barock oder die Barockoper. Aber die Festivalveranstalter der Frühen Musik haben vielleicht gelernt, wie man eine Barockoper vermarktet, und sie klammern sich an einen festen Aufführungsmodus, so wie sie es seit Jahren getan haben. Die Zuhörer wären jedoch für vor-barocke Inszenierungen empfänglich, so zum Beispiel für eine Urfassung des Orfeo aus dem späten 15. Jhdt. – doch die Veranstalter denken hier allzu konservativ. Der grösste kommerzielle Erfolg mit mittelalterlichen ‚Opern’ und ‚Operetten’ (liturgische Dramen) gelang der New York Pro Musica im Jahre 1958 mit dem ‚Play of Daniel’ (eine weitere Ausnahme war der Boom des Gregorianischen Gesanges in den 90er Jahren). Doch heute kommt es leider kaum mehr zu grösseren vor-barocken Produktionen.

Die Mittelalter- wie die Renaissance-Musik braucht ein Narrativ, einen erzählerischen Hintergrund und muss sich so am Markt neu erfinden. Sie darf nicht als die exotische Ecke der klassischen Musik abgestempelt oder als pure Musikgeschichte zur Seite geschoben werden. Überhaupt sollten für eine erfolgreiche Marktstrategie historische Begriffe oder Epochen aber auch Bezeichnungen wie ‚frühe Musik’ vermieden werden.

Die Festivalveranstalter orientieren sich bei ihren Entscheiden regelmässig am kommerziellen Mehrwert sowie an der Szene der klassischen Musik (so auch im Besonderen bei den frühen Opern); so folgen auch die Musikschulen (in der Logik eines Geschäftsmodells) den Vorgaben der Festivals und bereiten die Studenten auf die späteren Epochen vor. Wenn jedoch die Veranstalter ihre Prioritäten auf ebenso reichhaltige, frühere Jahrhunderte verschieben würden (so wie dies ReRenaissance aktuell versucht), entstünde ein neuer Trend, welcher auch bei den Musikakademien nicht ohne Folgen bliebe. Doch heute erscheinen die Studiengänge der Mittelalter- und der Renaissance-Musik als Nebenfächer des Barock und der Klassik, in einem Konservatorium, das sich vornehmlich der Neuzeit verschrieben hat. Dieses Modell des Studiums der Frühen Musik stammt aus dem 19. Jhdt. und verlangt dringend nach einer Revision.

Ich selbst war in den späten 70er Jahren der Ansicht, dass die Konservatorien innert einem oder zwei Jahrzehnten eigenständige Mittelalter- und Renaissance-Abteilungen einrichten würden. Weit gefehlt. Der Hauptgrund liegt darin, dass sich die Barockmusik mit der Welt der Klassik versteht, in Struktur und Inhalt der ‚normalen’ Klassik ähnlich ist und so akzeptiert wird. Dies ist bei der Renaissance – und noch mehr der Musik des Mittelalters – nicht der Fall. Diese Musikepochen oder Musikstile liessen sich nie als ‚klassisch’ vermarkten, sie gehörten für Laien vielmehr ins Umfeld der Volks- oder Traditionsmusik, oder zum Jazz oder gar in die neue Musikszene.

Mittelalter- und Renaissance-Musik muss vom Barock sowie von der Klassik ‚entkoppelt’ werden. Die Unterschiede zwischen dem barocken und dem humanistischen Musikverständnis, sowie ihrem Zugang zur Kunst sind enorm, deshalb unterscheiden sie sich auch in der Aufführungspraxis (was geflissentlich missachtet wird, wenn Musiker versuchen beides gleichzeitig zu tun). Der Mittelalter- oder Renaissance-Musiker sollte sich deshalb nicht als Assistent oder Gehilfe einer ‚Mainstream’-Musik sehen, sondern sich stattdessen an einem Konservatorium, an einem interdisziplinären Institut mit kunstgeschichtlichen und literarischen sowie sprachwissenschaftlichen Studiengängen ausbilden lassen. Sein Ausbildungsfokus wäre dann kultureller, geschichtlicher, geografischer sowie musikalischer Art. Meine Vision einer adäquaten Ausbildung für einen Interpreten oder ein Ensemble beinhaltet so ein Studium, welches zugleich kunst- und werkgeschichtlichen Aspekten gerecht wird und sich entsprechend in eine Epoche der Frühen Musik vertieft. Vielleicht verdient eine solcher Werdegang erneut den Begriff ‚Authentizität’.

Team ReRenaissance

Das Interview August 2020 – Ann Allen

Der in Basel domizilierte Verein ReRenaissance will durch sein breit gefächertes Aufführungs-programm dem geneigten Publikum

nicht nur die Welt der Renaissance vermitteln, sondern in einer Interview-Reihe auch den Interpret*innen der Frühen Musik das Wort erteilen,

Thomas Christ interviewt
die in Basel lebende Musikerin
Ann Allen (Schalmei und Barockoboe)

Thomas Christ (TC): Den geneigten Konzertbesucher*innen fällt auf, dass es keines der frühen Instrumente ohne starke Veränderungen in die Welt der Klassik geschafft hat. Vielen Zuhörer*innen mögen sogar die Namen mancher Saiten- oder Blasinstrumente unbekannt sein. Wie kamst du als junge Musikerin zur Schalmei oder zum Dulcian?

 

Ann Allen (AA) Obwohl ich seit meinem fünften Lebensjahr Blockflöte spiele, habe ich mich wie viele Kollegen zeitlich in die Vergangenheit «zurückgearbeitet». Als Kind war die moderne Oboe mein Instrument, aber rückblickend stelle ich fest, dass die Frühe Musik zu meiner Bestimmung werden sollte. Ich erinnere mich noch an meine grosse Begeisterung, als wir im Jugendorchester Händels Feuerwerksmusik spielten, oder daran, dass ich an jenem Wochenende der ersten Barocksonate das Instrument nicht aus der Hand legen wollte. Natürlich wusste ich zu dieser Zeit kaum etwas über die Welt der Barockmusik, geschweige denn über die der Renaissance oder des Mittelalters, aber ich fühlte, dass diese Stücke mich besonders berührten. Mit fortschreitendem Alter wurde meine Leidenschaft für die Frühe Musik ernsthafter, und an der Universität tauschte ich die moderne Oboe gegen die Barockoboe. An der Schola Cantorum Basiliensis schloss ich schliesslich Bekanntschaft mit der Schalmei und dem Dulcian – und dabei blieb ich.

 

TC: Kannst du uns bitte kurz etwas über die Herkunft der Schalmei erzählen: Wann hatte sie ihre Blütezeit? Gibt es Orte, wo sie sie heute noch im nicht-historischen Kontext gespielt wird?

 

AA: Wie viele Instrumente, die im Mittelalter und der Renaissance populär wurden, hatte auch die Schalmei ihren Weg über die Musiker der nahöstlichen Kulturen aber auch der östlichen und südlichen Mittelmeergegenden nach Europa gefunden. Abbildungen von schalmeiähnlichen Instrumenten sind bereits aus dem 13. und 14. Jahrhundert bekannt, aber die Blasinstrumente des August-Konzertes „Winds and Waves“ stammen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Die Schalmei wurde damals sehr populär und in der Alta Capella war sie in jeder Stadt, in jedem Dorf, am Hof und sogar – wie unser Konzert zeigt – auf den Schiffen zu hören

Der Ton des Instruments wird im Wesentlichen durch die Vibration zweier Holzrohrstücke erzeugt (Doppelrohrblatt). Schalmeiähnliche Instrumente finden sich auf der ganzen Welt. So traf ich letztes Jahr während meiner Ferien auf ein Schalmei-Duo eines thailändischen Orchesters – mit grossem Vergnügen tauschten wir unsere Erfahrungen aus und verglichen unsere Instrumente –«Google translate» sei Dank! Aber auch in Frankreich, Spanien und Italien sind schalmeiähnliche Blasinstrumente heute noch fester Bestandteil der traditionellen Musik.

 

TC: Seit einigen Jahrzehnten erfreut sich die Barockmusik grosser Beliebtheit, alle bedeutenden Opernhäuser haben die Opern von bekannten und unbekannten Komponisten in ihre Programme aufgenommen. Bei ReRenaissance stellen wir fest, dass die Neugier und das Interesse für die noch frühere Musik des 15. und 16. Jahrhunderts gross ist. Besitzt Basel mit seiner Schola Cantorum eine Vorreiterrolle oder stellst du diesen Trend auch in anderen europäischen Städten fest?

 

AA: Obwohl wir besonders bei der Mittelalter- und Renaissancemusik immer noch von einem Nischeninteresse reden müssen, scheint sich das Repertoire der Alten Musik sowie die historische Aufführungspraxis zu einem etablierten Genre der klassischen Musik hin zu entwickeln. Dieser Trend ist in der ganzen westlichen Musikwelt erkennbar. Ich habe in einigen europäischen Städten gelebt, aber keine dieser Städte lebt diesen Trend in der professionellen Tiefe

und Aufführungsfrequenz wie Basel. Natürlich sind in verschiedenen Ländern unterschiedliche Vorlieben und Trends anzutreffen, aber durch die Ausstrahlung der Schola Cantorum ist Basel zu einer Art Epizentrum der Frühen Musik geworden und so auch zu einer Brutstätte für kommende Generationen und neue Ideen zu Praxis und Forschung.

 

TC: Die Visualisierung des Musikerlebnisses liegt dir sehr am Herzen, du inszenierst Barockopern und kennst dich in der Kunst des mittelalterlichen Tanzes aus. Geht es dir um ein ganzheitliches Musikerlebnis?

 

AA: Ja, ich hatte immer einen visuellen Bezug zur Musik. Wenn ich Musik höre oder in einem Konzert sitze, erscheinen mir oft Bilder von Tanzszenen, oder ich stelle mir vor, wie eine Transformation der Musik in ein erweitertes Seh- und Hörerlebnis gestaltet werden könnte. Obwohl die Musik allein in ihrer Erfahrung für Ohr und Geist zur reinen Freude werden kann, bin ich überzeugt, dass ein Konzert oder eine Live-Aufführung alle Sinne der Zuhörer*innen ansprechen und so zu einer akustischen und visuellen Erfahrung werden sollte.

 

TC: Du liebst auch das Musikexperiment und inszenierst sogenannte Crossover-Projekte, bei welchen Elemente der mittelalterlichen Musik mit modernen Melodien verschmelzen, frühe und freie Musik treffen aufeinander. Erzähl uns etwas über diese geschichtliche Befreiung: Eignen sich die volkslied-ähnlichen Melodien der frühen Zeit besonders für dieses Spiel?

 

AA: Als gebürtige Londonerin bin ich in einem multikulturellen Umfeld aufgewachsen und freute mich an der Lust des Zusammenspiels und des experimentellen Vermischens, ob es nun die Küche, die Kleidung oder eben die Künste waren. Rückblickend stelle ich fest, dass es mir im Umgang mit der Frühen Musik ähnlich gegangen ist. Ich hatte das Glück, über zehn Jahre hinweg das Festival «Nox Illuminata» zu leiten; dort war Experimentierfreude gefragt: Frühe Werke wurden mit modernen Musikstilen konfrontiert oder mit Tanz-, Theater- oder Videoeinlagen kombiniert. So blieben auch Opernkreationen nicht frei von neuen Einflüssen, Purcells «Dido und Aeneas» erschien im Jazzkleid als «Play it again Dido». Was mir damals besonders Spass machte und am Herzen lag, war das Zusammenspiel von frühen Tanzmelodien mit modernen Jazzrhythmen, wobei wir bekannte, weltliche Renaissance- oder höfische Mittelalterklänge mit einem Jazz- oder Rocktrio aus Bass, Gitarre und Schlagzeug ergänzten. Es war eine grossartige Erfahrung, Musiker*innen unterschiedlichster künstlerischer Herkunft bei der Transformation dieser Melodien und Rhythmen zu erleben – und damit ein neues Publikum zu begeistern, das zu adaptierten Melodien tanzte, zu welchen bereits vor Hunderten von Jahren getanzt worden war.

Team ReRenaissance

Das Interview Juli 2020 – Raitis Grigalis

Thomas Christ interviewt den in Basel lebenden Sänger Raitis Grigalis, Assistent von Andreas Scholl
am Mozarteum in Salzburg.

Thomas Christ (TC): Raitis Grigalis, das Basler Publikum kennt dich schon einige Jahre als Sänger der Barockliteratur. Ich nehme an, dass dich der Gesang seit deiner frühen Kindheit begleitet hat, deine Heimatstadt Riga gilt ja als das Mekka der Chormusik. Kommst du aus einer Musikerfamilie?

 

Raitis Grigalis (RG): Meine Eltern sind keine Berufsmusiker, haben sich aber beim Musizieren kennen gelernt. Meine Mutter ist Ärztin, mein Vater Ingenieur; während beide noch studierten, trafen sie sich im gemischten Jugendchor der Universität in Riga. Meine Mutter sang im Sopran, mein Vater im Bass. Ich liebe diese Geschichte, denn so bin ich quasi im «Chor geboren», in und mit Chormusik aufgewachsen. Meine Eltern haben mich in die Musikschule Emils Darzins (Chorschule des Rigaer Doms) geschickt, wo ich im Knabenchor die ersten Bühnenerfahrungen gesammelt habe. Später sang ich im gemischten Chor, welcher vom Bruder meines Vaters geleitet wurde. Ganz ohne musikalische Gene bin ich allerdings nicht zur Welt gekommen: Mein Grossvater war in Lettland ein angesehener Chorleiter, Geiger, Organist und Lehrer. Während dem Studium an der Musikhochschule in Riga wirkte ich bei professionellen Ensembles mit, unter anderem auch beim Rigaer Rundfunkchor. Zur gleichen Zeit gründete und leitete ich den Kirchenchor der St. Peters-Kirche in Riga. Dies ist eine amüsante Parallele, denn damals trat ich auch oft in der Basler Peterskirche auf.

 

TC: Wie hast du den Weg nach Basel gefunden? War die Liebe zur Frühen Musik der einzige Grund?

 

RG: Mein Interesse für die Alte Musik wurde bereits im Gymnasium geweckt. Später, in der Musikakademie, wo ich mich auch im Dirigieren ausbilden liess, entdeckte ich meine hohe Stimme und entschied mich, den Gesang im akademischen Rahmen weiter zu entwickeln. Anfänglich schaute ich Richtung London – Lettland war damals noch nicht in der EU. Doch mein Studium wäre dort sehr teuer und damit fast unmöglich gewesen. Zufällig traf ich eines Nachmittags auf der Treppe der Hochschule meinen Professor für Musikgeschichte, der mir von Basel und der Schola Cantorum erzählte. Sofort begab ich mich zum frisch eingerichteten Computerraum im obersten Stockwerk und begann mit der Recherche. Als ich beim Öffnen der Website das Foto mit dem schönen Innenhof der Musikakademie in Basel sah, war mir klar – da will ich hin. Allerdings war es bereits April und ich kam mit meiner Anmeldung zu spät. Im Jahr darauf hat dann alles geklappt.

 

TC: In der Welt der klassischen Musik, insbesondere im Opernrepertoire der grossen Bühnen haben die Barockopern in den letzten Jahrzehnten enorm an Beliebtheit gewonnen. In ganz Europa schossen professionelle Barockensembles wie Pilze in die Musiklandschaft. Im Gegensatz dazu führt die reichhaltige Literatur der Renaissance noch ein eigentliches Schattendasein. Wie erklärst du dir dieses Ungleichgewicht?

 

RG: Das ist eine komplexere Frage und ich möchte nicht behaupten, dass ich sie übersichtlich und tiefgründig beantworten könnte. Es gibt viele Sprachen auf der Erde, auch jede Musik oder Stilrichtung spricht eine eigene Sprache, und somit verstehen wir die eine besser und die andere eher nicht. Die Sprache der Barockmusik ist uns heute leichter verständlich, weil sie mit ihren dramatischen Effekten expressiv, affektvoll, kontrast- und farbenreich, pompös, prächtig, lyrisch und zugleich intim auftritt. Dies gilt erst recht, wenn sie auf der Opernbühne, mit der ganzen Ausstattung eines barocken oder modernen Opernhauses, oder bei einer Messe mit Trompeten und Pauken zu uns spricht – da bleibt kaum jemand unberührt. Auch in der Renaissance gibt es Genres weltlicher Musik, die leichter aufnehmbar sind, hingegen verlangt der grosse Reichtum der Vokalpolyphonie möglicherweise eine Art ‚Zugangscode’, oder eine gewisse Aufmerksamkeit und Bereitschaft sich einzulassen, zu vertiefen, um die Lust und die Linearität der Musik zu geniessen – denn die Welt, die hinter diesen verschlossenen Türen steht, ist wunderschön. Ich selbst habe in den letzten Jahren sehr viel Polyphonie gesungen und ich liebe es. Es bleibt zu hoffen, dass die ökonomischen Faktoren in der Musikwelt positiv bleiben, damit auch die Musik der Renaissance weiter zum Erblühen kommt.

 

TC: Du wohnst nun seit 20 Jahren in der Region Basel. Findest du auch hier die Zeit, dich der Chormusik zu widmen?

 

RG: Klar, wenn ich schon ein Diplom für Chor und Orchesterdirigieren in der Tasche habe, setze ich es auch ein. Die Chorkultur in der Schweiz und speziell in Basel, ist sehr reich und besitzt eine lange Tradition.

Ich staune immer wieder über die vielen grösseren und kleineren Kirchenchöre, die jährlich ein, zwei grosse Konzerte auf die Bühne bringen – mit den klassischen Oratorien und Kantaten, mit Orchester und Solisten. Und dies beinahe in jeder Stadt der Schweiz. Dadurch unterscheidet sich die hiesige Chorkultur von jener in Lettland, denn dort ist alles in der Hauptstadt konzentriert. Eine lange Tradition kirchlicher Musik existiert nicht, denn bedingt durch die geopolitische Lage am Baltischen Meer, die ständigen Kriege und Machtwechsel sind unsere Traditionen immer wieder zerbrochen oder unterbrochen worden. Die Volks- und so auch die Musikkultur wurde durch die Jahrhunderte immer wieder unterdrückt und hat sich eher im Individuellen, im Familienkreis, oder gar im Untergrund weiterentwickelt und bereichert. Der Fundus ist riesig, es gäbe etwa 2 Millionen Volkslieder, nämlich fast für jeden Letten eines. Daraus entstand anfangs des 20. Jahrhunderts eine nationale Identität und schliesslich auch eine professionelle Musikkultur, die eine enorme Widerstandskraft in sich trägt. Dies erklärt, warum sich in Lettland Chöre generationenübergreifend mit dem Singen beschäftigen, denn oft war dies der einzige freie Ausdruck, den man sich leisten konnte. So erstaunt es wenig, dass die alle fünf Jahre stattfindenden Sängerfeste zu einem einzigartigen kulturellen Phänomen herangewachsen sind. Das Festival dauert jeweils eine ganze Woche und endet mit einem Wettbewerb in der Aula der Uni in Riga, wo in jeder Kategorie entschieden wird, wer zum besten Chor des Landes gekürt wird. Dies hat durchaus einen sportlichen Effekt und motiviert vor allem auch jugendliche SängerInnen. Die Chorkultur wird so sehr ernst genommen und führt zu hohen musikalischen Leistungen, was im Chorklang hörbar wird. Auch ich bin ein Kind jener Chorkultur und zugleich ein Abgänger der Schola Cantorum in Basel: So versuche ich nun beide Kulturgeschichten und Traditionen zusammenzuführen. Zurzeit leite ich den English Seminar Choir der Uni Basel.

 

TC: Ich habe gehört, dass du auch als Komponist tätig bist. Geht es da auch um Chorwerke? Kannst du uns dazu etwas erzählen?

 

RC: Das stimmt, ich habe Komposition immer wieder als Nebenfach studiert und tatsächlich geht es mehrheitlich um die Musik für Chor und Stimme, denn das ist der Stoff, den ich am besten kenne, wo ich mich wie ein Fisch im Wasser fühle. Es handelt sich um kleinere geistliche Chorstücke, Psalmvertonungen, aber auch um Stücke mit Texten von Rilke und einige Sätze für Messen. Ich würde mich keineswegs als Avantgardekomponist ansehen, vielmehr ist meine Musik auf praktische, funktionelle und harmonische Vorgaben ausgerichtet, sodass die Komplexität, auch dem nicht-professionellen Ensemble zugänglich bleibt.

Vor ein paar Jahren schrieb ich im Auftrag der katholischen Kirche in Therwil ein Weihnachtsoratorium mit einem Text von Jacqueline Keune, einer freischaffenden Theologin aus Luzern. Er ist es aus der Sicht einer alten Frau konzipiert und spiegelt die eher düsteren, hilflosen und graueren Aspekte der Weihnachtsgeschichte. Und gerade diese Wochen sind wir mit zwei Freunden aus Basel mit der Märchenoper «Schneewittchen» fertig geworden, einem Werk, welches wiederum eine andere Ausdrucksweise, eine andere Instrumentation und andere Stilmittel verarbeitet und als ein Bühnenwerk mit entsprechenden Aufführungsmitteln gedacht ist.

  

TC: Vielen Dank

Team ReRenaissance

Das Interview Juni 2020 – Baptiste Romain

Thomas Christ interviewt Prof. Baptiste Romain, Dozent für Fidel und Renaissancevioline
an der Schola Cantorum, Basel.

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Thomas Christ (TC): Herr Romain, als wahrscheinlich jüngster Dozent der Schola Cantorum widmen Sie sich praktisch ausschliesslich der Musik des 14., 15. und 16. Jahrhunderts. Wie erklären Sie ihren Altersgenossen ihre Liebe zur Renaissancemusik?

 

Baptiste Romain (BR): Es stimmt tatsächlich, dass ich mich ausschliesslich der Musik des Mittelalters und der Renaissance widme. Dabei könnte man den von Ihnen genannten Rahmen noch ein wenig öffnen und sagen: von ca. 1000 bis 1650. Wie Sie sich sicher vorstellen können, beinhaltet dieses Zeitfenster eine enorme Vielfalt an Repertoires und Musikstilen. Es ist schwer zu erklären, warum manche Klänge einen ansprechen und andere weniger, warum zum Beispiel die Reinheit einer perfekt gestimmten Quinte mir guttut, während sie auf andere beunruhigend wirken könnte.

 

Mit 11 oder 12 Jahren zeigte mir ein Schulfreund Editionen von Mittelaltertänzen und Liedern. Er spielte Blockflöte und hatte vor, diese Musik mit mir (an der «modernen» Violine) aufzuführen. Ich weiss noch, welche Stücke es waren und wie sie mich sofort begeistert haben.

Mit 14 Jahren entdeckte ich weitere Repertoires, als uns im Gymnasium in Musikgeschichte präsentiert wurden, darunter die Organa der Notre-Dame Schule, Trecento-Ballate oder das Requiem von Okeghem. Als wir eines Tages eine Motette von Guillaume de Machaut analysierten und anhörten, habe ich beschlossen, mich nur noch mit der Frühen Musik zu beschäftigten.

 

TC: Kommen Sie aus einer Musikerfamilie? Erlebten sie in ihren Jugendjahren diese doch sehr frühe Musik als «courant normal»?

 

BR: Meine beiden Eltern betrieben in meiner Kindheit musikalische Aktivitäten. Meine Mutter sang in einem Chor, mein Vater spielte zu Hause Gitarre, Klavier und später sogar Cembalo. Die Alte Musik war bereits Teil meiner Kulturlandschaft, zusammen mit Jazz und Klassik. In dieser Variationsbreite war das Mittelalter noch kaum präsent, aber die wenigen Schallplatten, die in die Richtung gingen, haben mein Interesse geweckt.

 

TC: Die Barockmusik erlebte in den letzten 20 Jahren einen eigentlichen Publikumsboom, beinahe alle Opernhäuser wagen sich heute regelmässig an barocke Singspiele. Wie schätzen Sie die Resonanz oder das Interesse des geneigten Publikums an der Renaissancemusik ein? Bleibt man im Kreis der Liebhaber oder erlaubt der Zeitgeist die Mobilisierung neuer Zielgruppen?

 

BR: An manchen Orten der Welt ist die Aufarbeitung der Frühen Musik seit einigen Jahren auf ein reges Interesse gestossen: es werden vermehrt Mittelalter- und Renaissance-Konzerte als Alternativen zu späteren Repertoires aufgeführt. Bei manchen Festivals bevorzugt sogar ein Teil des Publikums diese frühen Programme. An vielen anderen Orten bleibt die frühere Musik aber leider auf «das eine Ausnahmekonzert» beschränkt – das «spezielle Angebot» innerhalb einer ansonsten barocken Festivalwoche oder einer Reihe. Leider gibt es nun – aufgrund der generellen ökonomischen Konjunktur – noch weniger Festivals und Konzertreihen, die sich ausschliesslich der früheren Musik widmen.

 

TC: Die Geige ist bekanntlich eines der wenigen Instrumente, welches den Sprung von der Alten in die Neue Musik geschafft hat. Erklären sie uns kurz, die Unterschiede von Fidel, Renaissance-Violine und der klassischen Geige.

 

BR: Zwischen dem 10. und dem 16. Jahrhundert spielte man in Europa Streichinstrumente, die heute generell als «Fidel» bezeichnet werden. Dabei gab es wichtige regionale Unterschiede in der Bauweise, in den Klangkonzepten, den Spielweisen und in den Bezeichnungen. Im 15. Jahrhundert verstand man unter «vielle» ein fünfsaitiges Instrument mit relativ flachem Steg, das man am Arm spielte. Ab 1520 entwickelte sich eine neue Form desselben Instruments, mit stärkeren Einbuchtungen am Korpus und einem Steg, der das Spiel von polyphonen Linien begünstigte. Vorerst wurde die Violine mit drei Saiten bestückt, etwas später (gegen 1550) dann mit vier. Um 1560 bekam sie die Form und Bauweise, die uns bis heute allgemein bekannt ist.

Überdies gab es in der Renaissance grössere Instrumente, die zwischen den Knien gehalten wurden. Die Viola d’arco / Viola da gamba stammen aus einer Parallelentwicklung der spanischen Fidel und gewannen im 16. Jahrhundert einen besonderen Platz in der Musikkultur Europas.

 

TC: Sie unterrichten auch sogenannte «modale Improvisation». Wie muss man sich die Notation der Renaissancemusik vorstellen? Kann sie überhaupt ohne Improvisationsmuster gespielt werden? Wie frei muss sich der Laie diese Muster oder individuellen Figuren vorstellen? Erkennt man den guten Musiker an seiner Improvisationskunst?

 

BR: Persönlich glaube ich nicht unbedingt, dass man ein besserer Musiker ist, wenn man die Improvisationskunst allein in den Fokus stellt. Klar ist, dass sich das Publikum gerne nach Persönlichkeiten und zeitlosen Erlebnissen sehnt. Aber ohne Verständnis und Demut gegenüber dem Originaltext, ist eine solche Performance – meiner Meinung nach – oft nicht überzeugend. Schliesslich vermittelt die Notation der Renaissance mit sehr genauen Angaben das musikalische Denken eines Komponisten oder eines Schreibers. Die Freiheiten, die der Performer hat, können sich dabei auf verschiedene Interpretationsbereiche beziehen: Mikroverzierungen, die die Linie unmerklich reicher machen, gelegentliche Diminutionen, mit welchen der oder die Sänger*in oder Instrumentalist*in sich allmählich vom Quellentext befreit oder schliesslich das durchgehende Spiel (oder Singen) von virtuosen Diminutionen, die Kreativität und Verständnis des Aufführenden in den Vordergrund stellen. Dazu gibt es noch einige Aspekte, die sich die heutigen Musiker*innen aneignen können, wie zum Beispiel die Kunst des Vorspiels oder des improvisierten Kontrapunkts.

 

TC: Als Kenner der Renaissancemusik sind Sie notgedrungen auch Historiker. Barockbilder verraten uns viel über barocke Gestik, aber woher holen Sie sich ihre Quellen für die Klänge und Vorlieben der alten Aufführungspraxis?

 

BR: Zur Rekonstruktion der damaligen Aufführungspraxis gibt es ein paar Hauptelemente, woran ich spontan denke. Die bildlichen Darstellungen von Musizierenden, Aufführungssituationen und Instrumenten sind für uns von grosser Bedeutung und werden schon seit langem studiert. Dazu kommen die theoretischen Traktate und Schriften, die die Musikpraxis beschreiben. Hier ist die Abstufung sehr breit: man findet Texte, die dem Musikunterricht von Kindern dienen sollen, manche erklären eine spezielle, technisch orientierte Praxis, während andere den musikalischen Zeitgeist einer besonderen Epoche philosophisch ausmalen. Dazu kommen noch die ganzen Nachschlagewerke … Dank der Musikwissenschaft findet man immer neue Aspekte und Bausteine – ihr Studium ist für uns eine wichtige Inspirationsquelle.

 

TC: Nicht alle wissen, dass Sie auch ein begnadeter Dudelsack Spieler sind. Wie kamen sie zu diesem Instrument?

 

BR: Als ich 13 Jahre alt war, haben mich die Klänge dieses Instruments fasziniert. Diese Leidenschaft (oder Sucht!) hat mich damals veranlasst, – schon bevor ich mir eine Fidel kaufte – einen kleinen Dudelsack bei einem niederländischen Bauer zu bestellen. Als er ankam (vor etwa 20 Jahren), ging ich jeden Tag in den Wald, um zu üben – manchmal auch bei Regenwetter, was für das Instrument schwere Folgen hatte. Damals habe ich überall in den Bibliotheken der Pariser Region nach Aufnahmen gesucht, um neue Dudelsackstücke zu notieren und zu lernen, egal aus welchen Traditionen Europas. Da entdeckte ich viele bretonische und schottische Stücke, aber auch schwedische, italienische, ungarische Melodien, die mit einem besonderen Vokabular an Verzierungen und Artikulationen verbunden waren. In der Zeit, als ich dann in der Schola Cantorum Basiliensis studierte, habe ich versucht, eine eigene, dem alten Repertoire angepasste Dudelsacksprache zu entwickeln. Mittlerweile besitze ich zehn verschiedene Instrumente. Vor etwa einem Monat, während des Lockdowns, habe ich noch einen weiteren Dudelsack aus den Pyrenäen bestellt. Die Besessenheit ist noch da …

 

TC: Vielen Dank für ihre Einblicke in die Welt der Frühen Musik, wir freuen uns auf Ihre Mitwirkung an unserer Konzertreihe in der Barfüsserkirche.

Team ReRenaissance

Das Interview April/Mai 2020 – Elisabeth Stähelin

 

Elisabeth Stähelin, Initiatin und administrative Leiterin des Vereins und der Monatskonzerte “ReRenaissance”,

wird interviewt von Dr. Thomas Christ,

begeisterter Konzertgänger und Liebhaber der Basler Kulturszene,

der mit einem Studium von Kunstgeschichte und Ius und viel Lebenserfahrung im Gepäck

seit Januar ReRenaissance im Vorstand unterstützt.

Thomas Christ (TC): In Basel formierte sich Ende letzten Jahres ein neuer Verein, der sich ausschliesslich der Frühen Musik widmen will – dies obwohl insbesondere in der Basels Barockszene seit vielen Jahren einige namhafte Ensembles ums Überleben kämpfen. Was sind eure Beweggründe?

 

Elisabeth Stähelin (ES): Mir ist in den letzten Jahren aufgefallen, dass es einerseits bei den Barockfans doch zum Teil Leute gibt, die eine nochmalige Aufführung z. B. der Jahreszeiten von Vivaldi mit „Vielleicht hätte man auch ein anderes Stück spielen können?“ kommentieren – dass anderseits Renaissance-Musik eine langsam aber stetig wachsende und immer verständnisvollere Zuhörerschaft findet, wiewohl man diese immer noch eher als exklusiv bezeichnen muss und die Konzerte mit der Lupe zu suchen sind.

Dazu kommt, und das ist ein wichtiger Punkt, dass Basel und die Region seitens der Musiker*innen ein weltweit in dieser Konzentration einmaliges Potential an Expert*innen für Renaissancemusik beherbergt. Das ergibt sich daraus, dass die Schola Cantorum Basiliensis – so heisst die Abteilung für Alte Musik der Musikakademie bzw. der Hochschule für Musik FHNW – mit ihrem Unterrichtsinhalt und ihrer hochstehenden Qualität Fachpersonen aus der ganzen Welt anzieht. Wir verfügen da in Basel quasi über einen Leuchtturm der Frühen Musik – ich nenne sie viel lieber Frühe als Alte Musik und hoffe, dass sich diese Bezeichnung im deutschsprachigen Raum durchsetzt.

Nicht nur Geschichte, Religion, Philosophie und Ästhetik der Jahre 1400–1600 unterscheiden sich stark von der späteren Zeit, sondern auch die Musik; wir wollen dem Publikum damit ein neues Erlebnisfeld eröffnen.

 

TC: Die Programmgestaltung ist bereits bis ins 2021 gediehen; worum geht es in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht?

 

ES: Ehrlich gesagt: Diese Frage betrifft nicht mein Metier! Wir haben die Musik auf die Zeit von 1400 bis 1600 eingegrenzt, aber mit der Programmgestaltung habe ich direkt gar nichts zu tun. Diese Aufgabe liegt in den Händen des musikalischen Leitungskreises, bestehend aus der Blockflötistin und Gambistin Tabea Schwartz, dem Lautenisten Prof. Dr. Marc Lewon und der Gambistin Elizabeth Rumsey. Sie sind momentan daran, das Programm für 2021 zu vervollständigen. Mir persönlich ist es einfach sehr wichtig, dass verschiedenste Ecken der Renaissancemusik und der Welt abgedeckt werden – zum Beispiel wollen wir Tanzmusik, Outdoor-Ensembles oder seltene Instrumente berücksichtigen –höchst polyphone wie auch monodische Kompositionen sollen zur Aufführung kommen wie auch Musik aus anderen europäischen Hochburgen der Renaissance.

 

TC: Worin besteht der Bezug zu Basel?

 

ES: Basel war ein bedeutendes Zentrum der Renaissance; man denke an das Basler Konzil 1431–1449 oder an die Gründung der Universität 1460; in dieser Zeit erblühten hier die Papierherstellung und der Buchdruck. In Basel sind nicht wenige noch unbekannte Schätze der Renaissance zu entdecken, so zum Beispiel in der Handschriftensammlung der Universität. Das Märzprogramm beruhte auf dem Liederbuch des Kettenacker aus der Amerbach-Sammlung. In Basel stehen noch einige gut erhaltene Bauten aus der Renaissance, wie zum Beispiel der Spiesshof am Heuberg mit seiner berühmten Kassettendecke oder das Rathaus. Die heute noch geltenden politischen Strukturen der Stadt Basel finden ihre Wurzeln in dieser Zeit.

 

TC: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum Basel?

 

ES: Seit Mai 2019 waren wir auf der Suche nach geeigneten Räumen. Wir klapperten Basel nach für Konzerte geeigneten Renaissanceräumlichkeiten ab. Dabei entdeckten wir viel mehr als erwartet: Kaisersaal, Münstersaal im Bischofshof, diverse Zunftsäle wie Safran- oder Schlüsselzunft, Zum hohen Dolder, Schützensaal etc. Wir hätten durchaus für jedes Konzert einen speziellen Raum finden können. Schlussendlich lag doch das Anliegen im Vordergrund, für die am letzten Sonntag jedes Monats stattfindenden Konzerte einen zentralen Ort zu finden, der es ermöglicht, verschiedenste Formate der Musik zu präsentieren, ohne dass die Musiker*innen und das Publikum sich jedes Mal wieder neu orientieren müssen. Die Barfüsserkirche ist optimal erreichbar, und die Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum entpuppt sich als sehr inspirierend.

 

TC: Renaissancemusik ist auch dem geneigten Publikum wahrscheinlich weniger bekannt als die Kompositionen der folgenden Jahrhunderte. Wird die Aufführungsreihe mit Vorträgen oder entsprechenden Texten bereichert?

 

ES: Wie genau am Sonntag-Nachmittag die Schnittstelle vom Museumsbetrieb zum Konzert logistisch funktionieren wird, scheint noch etwas unklar, da müssen wir erst Erfahrungen sammeln. Wir hoffen, ab 2021 dann auch jeweils begleitende Vorträge zur Einführung anbieten zu können. Vorerst werden wir jeweils ein ausführliches Programmheft drucken und auf der Webseite vorweg mit Illustrationen und Texten informieren. Dazu gehören insbesondere auch die monatliche Kolumne zum Konzert von Prof. Dr. Dr. h. c. David Fallows und ein monatliches Interview mit einer Musiker*in oder einer im Projekt involvierten anderen Person. Mit dem monatlichen Newsletter weisen wir jeweils auf die Aktualisierungen hin.

 

TC: Für die allmonatlichen Konzerte konntet ihr namhafte Ensembles gewinnen. Wer ist für die Programmgestaltung verantwortlich?

 

ES: Was die Erwähnung namhafter Ensembles betrifft, muss ich klar widersprechen. Wohl findet man im Programm viele Musiker*innen aus namhaften Ensembles, aber keine solchen Ensembles an sich. Das ist gerade eine der Besonderheiten unseres Projekts: Anders als die meisten anderen Konzertreihen gehen wir von einem inhaltlichen Thema aus und suchen dann Musiker*innen aus der Region, die dieses Thema gemeinsam optimal verwirklichen können. Für jedes Konzert stellen wir eine spezifische, neue Konzertgruppe zusammen – wobei das allerdings auch nicht zu meinen Aufgaben zählt, sondern die Aufgabe des obengenannten für die Musik zuständigen Dreierleitungsteams ist.

 

TC: Sind auch Auftritte in anderen Schweizer Städten geplant?

 

ES: Andere Konzertveranstalter sind zwar mit dieser Frage schon auf uns zugekommen, aber prioritär liegt unser Ziel momentan darin, diese Reihe in Basel zu etablieren. Wir hoffen, dass sich in der Basler Bevölkerung ein grosses und stabiles Stammpublikum entwickelt. Wir denken aber, dass unsere Reihe durchaus mit der Zeit auch schweizweit ausstrahlen wird. Schon jetzt erhalten wir Unterstützung zum Beispiel durch die Göhner-Stiftung mit Sitz in Zug oder einen privaten Gönner aus Luzern.

 

TC: Unterstützt das Kulturdepartement des Kantons Basel-Stadt das Projekt oder lebt ihr von privaten Drittmitteln, sprich von Stiftungen?

 

ES: Wir sind sehr froh und dankbar, dass nicht wenige Stiftungen und private Gönner Vertrauen in uns und das Projekt legen, so dass wir definitiv starten können. Von städtischer Seite erhalten wir Unterstützungsbeiträge an zwei spezifische Konzerte dieser Saison durch den Swisslos-Fonds Basel-Stadt.

 

TC: Wie geht ihr mit der Corona Krise um? Ich nehme an, es kommt zu Programmverschiebungen. Führt das insbesondere in Sachen Veranstaltungsorte zu Problemen?

 

ES: Was den Veranstaltungsort betrifft, haben wir schon jetzt die Zusage des Historischen Museums Basel, dass wir 2021 weiter die Barfüsserkirche nutzen können. Leider mussten gerade die ersten beiden Konzerte abgesagt werden. Wir können mit den allmonatlichen Konzerten aber quasi rollend planen und steigen einfach ein, sobald die gesundheitlichen Bedingungen Konzerte wieder ermöglichen. Auch die Stiftungen bringen erfreulicherweise grosses Verständnis für die komplexe Situation auf.

 

TC: Du arbeitest jetzt bald schon ein Jahr für dieses Projekt. Wie erlebst du persönlich diese Arbeit?

 

ES: In den 80er Jahren war ich selbst im Konzertleben aktiv und leitete als Geigerin ein Ensemble für Barock und Klassik, dann verlegte ich meine Arbeit schwerpunktmässig in die Violinpädagogik. Ich geniesse jetzt die Herausforderungen in der Konzeptarbeit und im Aufbau für diese Konzertreihe sehr und erlebe es als eine grosse Bereicherung; ich bin ja quasi „Mädchen für alles“: sei es das Eintauchen in die Welt der Stiftungen, die doppelte Buchhaltung, das Texten oder die Gestaltung der Webseite, sei es die möglichst künstlerisch passende Gestaltung der Werbung – dass wir die Monatsflyer in Zusammenarbeit mit dem Papiermuseum im Buchdruckverfahren produzieren können, gefällt mir zum Beispiel sehr.

Die Zusammenarbeit im Leitungskreis und im Vorstand klappt hervorragend, der Support für unser Projekt unter den Musiker*innen und im wissenschaftlichen Beirat ist enorm.

Team ReRenaissance

Das Interview März 2020 im PDF: Katharina Haun

Friedhelm Lotz,
ein Frühe Musik-Fan der ersten Stunde
und als Hobbymusiker seit den 1960er Jahren ein Veteran in der Sache,
traf sich mit Katharina Haun,
der Zinkenistin des ersten ReRenaissance-Konzerts,

das am 28. Juni stattfand

und von SRF2Kultur aufgezeichnet wurde.

 

Friedhelm Lotz: Wie bist du zur Musik als Beruf gekommen?

Katharina Haun: Ich bin nicht jemand, die sich früh entschieden hat Musikerin zu werden. Vieles ist in meiner Kindheit einfach so passiert. Ich komme nicht aus einer Musiker-Familie, bin aber gewissermassen hinein- gerutscht: Ich ging an ein musisches Gymnasium und habe, wie viele Kinder, mit der Blockflöte angefangen. Im Gegensatz zu den meisten, bin ich dann aber dabei geblieben. Durch gute Lehrer hat sich meine Liebe zur Musik entwickelt und ich habe dadurch die Blockflöte als professionelles Instrument kennenlernen können.

Friedhelm Lotz: Wie bist du zur Musik als Beruf gekommen?

Sebastian Virdung: Verschiedene Blasinstrumente, darunter der gerade Zink (Musica getutscht, Basel 1511)

Lotz: Katharina, was hat dich auf den Zink aufmerksam gemacht?

Haun: Schon im Laufe meines Bachelorstudiums in meiner Heimatstadt Graz habe ich den Zink entdeckt. Das ging einfach so durchs Lesen und durch ein Konzert, in dem meine Mutter im Chor gesungen hat. Dort habe ich ihn gehört und er hat mich einfach fasziniert. Da habe ich angefangen zu suchen und auch zu sehen, dass das eigentlich im 16. und 17. Jahrhundert ein total wichtiges Instrument war. Mich fasziniert, dass was über einen Zeitraum von 200 Jahren so wichtig war, heute so wenig gekannt wird. Diese Suche hat mich weitergebracht und ich habe während meinem Blockflöten-Master am Mozarteum in Salzburg, den Zink immer als grosse Faszination empfunden. Ich hatte dann dort auch das Glück, mit dem Zink beginnen zu können, um danach an der Schola Cantorum in Basel in ganz andere Tiefen des Zinkspiels und der alten Musik einzutauchen.

Lotz: Der Zink hat ja den Ruf eines Instrumentes, das schwer zu spielen und zu erlernen ist. Hast du das auch so empfunden?

Haun: Kaum ein Zinkenist hat als Kind mit diesem Instrument begonnen. Wir alle sind irgendwie über Umwege dazu gekommen und bringen Erfahrungen der Vorgängerinstrumente mit. Der Zink fordert, dass man sich immer mit ihm beschäftigt. Das Gefährlichste sind lange Pausen, aber das ist für mich überhaupt kein Problem: ich komme aus einer sportlichen Familie, in der es immer wichtig war „dran zu bleiben“ und durchzuhalten. Ich übe auch auf Reisen mindestens eine Stunde täglich und das wurde mit der Zeit so selbstverständlich für mich wie Zähneputzen. Besondere Schwierigkeiten, z.B. mit dem kleinen Mundstück,  entstehen meiner Meinung  nach, wenn man nicht genügend Disziplin aufbringt, um sich wirklich täglich dran zu setzen.

Lotz: Man würde meinen, der Zink wäre eine Kreuzung zwischen einer Trompete (Ansatz) und einer Blockflöte (Fingerlöcher). Eine (eher rhetorische) Frage wäre, ob es genügt diese beiden Instrumente zu beherrschen, um Zink spielen zu können. Was meinst du dazu?

Haun: Für die Trompete kann ich nicht sprechen, aber es scheint, Trompeter und Posaunisten hätten wohl Schwierigkeiten mit der Grösse des Mundstücks. Die Intonation am Zink bringt ganz andere Schwierigkeiten mit sich als auf der Blockflöte: Beim Zink ist eine Vorstellung vom Ton ganz entscheidend für die Steuerung der Intonation; die Finger sind natürlich auch wichtig, aber in erster Linie, um den Ton zu fokussieren. Man passt zu seinem Instrument, der Zink und ich passen gut zusammen. Ich könnte mir kaum vorstellen, ein Streichinstrument zu spielen.

Lotz: Auch bei der Trompete ist die Tonvorstellung wichtig für die Intonation, aber nicht in dem Masse wie beim Zink. Die starke Beeinflussbarkeit des Tones durch der Vorstellung ist wohl auch entscheidend für die breite Einsetzbarkeit des Zinks, von der intimen Zwiesprache mit dem Gesang im kleinen Raum, bis hin zur brillanten, hellen, alles übertönenden Präsenz im grossen Konzertsaal.

Haun: Das ist tatsächlich die Besonderheit des Zinks: Diese Flexibilität hebt ihn von den meisten anderen Instrumenten seiner Zeit ab, bei denen man einfach nicht heraus kann aus einer schmalen dynamischen Bandbreite. Gemeinsam mit den Posaunen wurde der Zink auch von Anfang an für die unterschiedlichsten Kontexte verwendet und das finde ich extrem spannend. Kürzlich habe ich wieder mit einer Alta Capella gespielt, also mit wirklich lauten Instrumenten der Renaissance: Schalmeien, Posaunen, Zugtrompeten, usw. Dazu musste  ich mich  vorbereiten und umstellen, auch mit einem anderen  Mundstück, das eine deutlich hellere Klangfarbe hatte, zu spielen. Auf  jeden Fall muss man dafür eine andere Technik anwenden, gut Bescheid wissen, was die Dinge sind, die den Klang ausmachen und wie der Klang und der Atem zu führen sind. Ich übe das auch für mich alleine: laut und sehr klar spielen, dazu sehr viel mit Stimmgerät und das nicht nur für die Alta Capella, sondern z.B. auch für Musik von Biber oder Muffat, wo man mit dem Cornettino (hoher Zink) als höchstem Instrument des Ensembles spielen muss; und dann genau das Gegenteil, z.B. bei einer Bovicelli-Diminution, wo es wichtig ist, einen flexiblen, weichen und warmen Klang zu haben.

Lotz: Du erwähnst gerade die Geschichte des Zinks. Deine Masterarbeit in der Schola hatte damit zu tun? Um welches Thema geht es da?

Haun: Ich untersuchte die Entwicklung des Zinks zwischen 1450 und 1530. In der Ikonographie um 1450 taucht der Zink erstmals als etabliertes, in ein Ensemble integrierbares Instrument auf. Frühere Bilder suggerieren, dass Griffloch-Hörner, wie sie als Signalinstrumente oder zum Eintreiben von Viehherden benutzt wurden, Vorläufer des Zinks waren; hierzu fehlen allerdings eindeutige Nachweise. Um 1520/30 beginnt die Zeit, in der das Instrument sehr populär wurde, in allen möglichen musikalischen Kontexten auftauchte und viel darüber geschrieben wurde. Diese Periode, in der sich der Zink zu einem populären Instrument entwickelte, ist sehr spannend. Ich habe mich weniger auf die vorhandene Ikonographie gestützt, sondern mehr auf schriftliche Berichte und Beschreibungen aus diversen Ländern. Es gibt recht umfangreiche Informationen, z. B. lässt ein Eintrag vermuten, dass das deutsche Wort „Zink“, anstatt dem allgemein üblichen „Cornetto“, erstmals in Basel um 1474 auftauchte

Lotz: Wie hältst du dich fit?

Haun: Ich treibe viel Sport, was für mich sehr wichtig ist und der Kondition für das Musizieren sicher nicht schadet. Gestern war ich z. B. Snowboarden.

Lotz: Reisen?

Haun: Ich reise sehr gerne, wenn möglich mit meinem Mann und in die freie Natur. Als freischaffende Musiker ist dies nicht  immer leicht  zu schaffen.  Wir versuchen, gemeinsame Zeiten frühzeitig zu reservieren.

Lotz: Andere Musik, andere Tätigkeiten?

Haun: In den anderen Hochschulen hatte man mir klargemacht, ich müsse mich zu 100 % nur auf eine Sache konzentrieren, aber das liegt mir nicht. Hier in Basel konnte ich erstmals aufleben und geniesse die Vielfalt. Auch wenn ich mich selbst eindeutig für Renaissance und Barock als Zinkenistin und Blockflötistin entschieden habe, finde ich die Beschäftigung auch mit anderer Musik sehr spannend, schön und wichtig. Ich bin Leiterin des Kammerchores Laufental-Thierstein und seit kurzem die Chorschulleiterin der Basler Knabenkantorei. An Wochenenden, in den Ferien oder wenn ich so dazwischen noch Zeit habe, bin ich auch  Reiseleiterin  für  Opernreisen  und  dann beschäftige ich mich natürlich mit ganz anderer Musik und das finde ich sehr bereichernd.

Vielen Dank, Katharina, für das interessante Gespräch. Ich wünsche dir viel Freude im ersten Konzert von ReRenaissance und Erfolg für deine weitere Laufbahn!

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